Links und rechts des Trails ragen mächtige Berge in den stahlblauen Himmel. Weit und breit gibt es keinen Ort, keine Asphaltstraße, keinen Lärm. Nur der Bach nebenan murmelt sein Lied der Wildnis. Und fröhlich klingeln die Bärenglöckchen, die die Naturfreunde wie Armbanduhren am Handgelenk tragen.
Wie angewurzelt bleiben die Wanderer plötzlich stehen. Da kreuzt doch tatsächlich ein brauner, zotteliger Koloss etwa 70 Meter vor ihnen den unbefestigten Pfad. Sekunden dehnen sich zu Minuten. Wie wird der Grizzly reagieren? Zwar stecken Dosen mit Anti-Bären-Spray griffbereit in Taschen und Rucksäcken, aber hilft der beißende Sprühnebel wirklich, falls der Bär angreift? Die Herzen der Globetrotter pochen und Gedankenfetzen schwirren durch die Köpfe. Doch Meister Petz bleibt ganz entspannt, schüttelt seinen Pelz und trollt sich flugs ins nahe Dickicht.
Allein fernab der Zivilisation
Begegnungen mit Grizzlys und Schwarzbären müssen in Kanadas Abgeschiedenheit immer einkalkuliert werden. Das weiß auch Carmen Rohrbach, die in ihrem rezenten Sachbuch „Mein Blockhaus in Kanada, Wie ich mir den Traum von Wildnis und Einsamkeit erfüllte“ (1) mit Begeisterung schildert, wie sie in die vom Menschen unangetastete Schönheit des hohen Nordens eintaucht, in einer einfachen Holzhütte an einem See mit glasklarem Wasser, umringt von rauen Bergen, die Natur hautnah erfährt (ohne Strom, Internet, Telefon und fließendes Wasser) und in völliger Isolation bei bis zu minus 48 Grad den kanadischen Winter erlebt.
Den Bären begegnet sie immer mit Respekt, was die einzig richtige Haltung gegenüber diesen gefährlichen Tieren ist. Sie ist sich bewusst, dass Angriffe von Meister Petz so gut wie immer durch Fehler der Menschen geschehen. So gibt es drei Situationen, die unbedingt zu vermeiden sind: Man darf sich nie einer Bärin mit Jungen nähern. Man muss sich von einem toten Tier fernhalten, das ein Bär geschlagen haben könnte und das von ihm aus nächster Nähe bewacht wird. Man darf keinen Bären überraschen, sodass er den Menschen zu spät bemerkt und ihm nicht mehr ausweichen kann.
In der Magie der Einöde gefangen
Im neuen Sachbuch „Das Geschenk der Wildnis, Freiheit, Gelassenheit, Mut, Dankbarkeit – Wie die Natur jedem das gibt, was er braucht“ (2) entführt Elli H. Radinger den Leser in ihre eigene urwüchsige Welt, die mit wahrer Schönheit und Wundern gesegnet ist: „Ich möchte Sie mitnehmen in meine Wildnis, an unberührte Orte und zu wilden Tieren, die mir den Atem raubten. Die Wildnis hat mein Leben und Denken verändert. In ihr finde ich immer wieder Frieden.“
Dass ein menschenleeres Umfeld auch nervenzermürbend sein kann, erfuhr die Autorin, als sie sich auf die Spur der Grizzlys im Yellowstone-Nationalpark heftete, wo sie im Herbst 2005 von einem stattlichen Bären angegriffen wurde, der plötzlich aus dem Gehölz etwa 50 Meter vor ihr auftauchte.
„Das Blut gefror mir in den Adern. Ich fühlte mich dem Ungetüm mit den gewaltigen Krallen wehrlos ausgeliefert … Der Grizzly erhob sich zu seiner ganzen beängstigenden Größe auf die Hinterbeine. Er ließ mich nicht aus den Augen und schnupperte in meine Richtung. Dann ließ er sich mit den Vorderbeinen auf den Boden fallen und stürmte auf mich los, wobei er mal mit der rechten, mal mit der linken Pranke fest auf den Boden schlug. Ich hörte ein ,Wuff‘ und seine Zähne aufeinanderschlagen – eine deutliche Warnung … Vielleicht war der Grizzly irritiert, weil ich stehengeblieben war. Oder er hatte nur seinen Standpunkt klarmachen wollen, dass dies sein Revier ist und er keine Eindringlinge duldet. Warum auch immer – er machte etwa zwei Meter vor mir kehrt und trollte sich brummend davon, nicht ohne sich alle paar Meter noch mal nach mir umzudrehen.“
Denken im wilden Zustand
Dass die Autorin nach diesem Ausnahmeerlebnis die Wildnis und ihren eigenen Umgang mit der Angst mit anderen Augen gesehen hat, dürfte niemanden erstaunen. Die überstandene Gefahr zeigte ihr, wie verwundbar sie als Mensch ist, und erinnerte sie daran, wie einmalig schön es ist, am Leben zu sein. In den Fußstapfen von Grizzlys zu wandern bedeutet auch, die tief in uns verwurzelte Wildnis von einer neuen Warte aus zu begreifen.
Diese unwirtliche Umgebung fordert uns, stärkt uns, beruhigt uns, nimmt uns sogar vielleicht die Furcht vor dem Unbekannten, dem Tod und macht uns vertraut mit der ganzheitlichen, bildhaften und mit der Natur verbundenen Weltsicht indigener Kulturen, die im Mittelpunkt der Neuerscheinung „Wildes Denken, Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt“ (3) stehen.
Darin verdeutlicht Rüdiger Sünner die verschiedenen Formen dieser laut Claude Lévi-Strauss in jedem menschlichen Geist existierenden Gedankenfülle, die am Beispiel der Indianer Nordamerikas zum Glauben an die „Vollständigkeit der Schöpfung“ geführt hat. Die Erhaltung des Gleichgewichts in der Natur, die Vorstellung der Weltsymmetrie, die Unversehrtheit von Tier und Pflanze gehören zu den Grundlagen des indianischen Denkens und zwingen zu einer dauernden Rücksichtnahme auf die Umwelt, womit die nordamerikanischen Ureinwohner eine gedankliche Demut offenbaren, die dem weißen Mann guttun würde.
Lesetipps
(1) Carmen Rohrbach: „Mein Blockhaus in Kanada, Wie ich mir den Traum von Wildnis und Einsamkeit erfüllte“ (Malik im Piper Verlag, München 2019, 288 Seiten mit 24 Seiten Farbbildteil und einer Karte, gebunden mit vierfarbigem Schutzumschlag, 22 €, ISBN 978-3-89029-507-7);
(2) Elli H. Radinger: „Das Geschenk der Wildnis, Freiheit, Gelassenheit, Mut, Dankbarkeit – Wie die Natur jedem das gibt, was er braucht“ (Ludwig Verlag in der Random House Verlagsgruppe, München 2020, 271 Seiten mit mehreren Farbbildteilen, gebunden mit vierfarbigem Schutzumschlag, 22 €, ISBN 978-3-453-28122-6);
(3) Rüdiger Sünner: „Wildes Denken, Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt“ (Europa Verlag, München 2020, 285 Seiten, gebunden mit vierfarbigem Schutzumschlag, 20 €, ISBN 978-3-95890-313-5)
Nichts ist gefährlicher als ein Allesfresser wie ein Bär.
Der tötet Sie nicht, der stellt eine Tatze auf Sie und beginnt zu fressen.