Rammstein-Sänger Till Lindemann ist beileibe nicht der erste Musiker, der wegen sexueller Übergriffe verklagt wird: Win Butler (Arcade Fire) oder Brian Warner (aka Marilyn Manson) standen vor kurzem aus genau diesen Gründen im Rampenlicht.
Der Fall Lindemann hat die Musikwelt jedoch bereits jetzt schon weitaus mehr erschüttert als alle vorherigen Vorfälle. Das liegt erst mal daran, dass die erfolgreichste aller deutschen Bands aufgrund ihrer provokativen Haltung selten gleichgültig lässt – der Bezug zum Phänomen Rammstein ist meist ungleich emotionaler als bei einer Band wie Arcade Fire, was sich auch in den teilweise extremen und irrationalen Reaktionen verschiedener Fans spiegelt.
Dazu kommt, dass Lindemanns Texte oft spielend-ironisch thematisieren, was er im wahren Leben dann wohl vielleicht gänzlich unironisch praktizierte. Am schlimmsten ist jedoch die Vermutung, dass hinter diesen Übergriffen ein System gesteckt haben könnte, in dem eine russische Casting-Agentin junge Frauen für Lindemann rekrutiert haben soll. Falls sich der Verdacht, dass zudem K.-o.-Tropfen im Spiel gewesen sein sollten, bestätigt, wären Lindemanns Handlungen nicht nur verachtenswert, sondern zudem strafbar.
„Falls sich all das bewahrheiten sollte, finde ich es absolut furchtbar – und das auf einer ganzen Reihe von Ebenen“, so Booker Michel Welter, der mit seiner Atelier S.A. am 20. Juli 2019 das letzte Rammstein-Konzert in Luxemburg organisierte. „Einerseits sind sexuelle Übergriffe widerlich, im Fall Lindemann käme aber noch die ,circonstance aggravante‘ dazu, dass er sich in einer Machtposition befindet, weil er in einer Band spielt und man in einer solchen Situation Fans hat, die einen verehren und auf einen Podest stellen. Wer sich in einer solchen Machtposition befindet, muss sich der Möglichkeit bewusst sein, dass deine Fans dich oder deine Handlungen nicht hinterfragen und vielleicht Sachen akzeptieren, die sie im Umgang mit Menschen, die sie eben nicht auf ein Podest stellen, niemals hinnehmen würden.“
Wer in einer Band spielt, hat eine Verantwortung gegenüber seinen Fans – er hat die Verpflichtung zur Gutmütigkeit. Wer gegen diese Regeln verstößt, hat meiner Meinung nach nichts mehr auf einer Bühne verloren.
Verantwortung und Vertrauensbruch
Ein bisschen wie der unsichtbare Vertrag, den laut Philippe Lejeune der Autor einer Autobiografie mit seinem Leser eingeht (*), gibt es für Michel Welter auch eine Art Pakt, den eine Band mit ihrem Publikum unterzeichnet: „Wer in einer Band spielt, hat eine Verantwortung gegenüber seinen Fans – er hat die Verpflichtung zur Gutmütigkeit. Wer gegen diese Regeln verstößt, hat meiner Meinung nach nichts mehr auf einer Bühne verloren. Nehmen wir Bertrand Cantat, den Sänger von Noir Désir. Der Mann hat seine Strafe im Knast abgesessen, er hat Reue gezeigt – trotzdem würde ich ihn nicht mehr auf eine Bühne lassen. Das Vertrauen ist weg – und wie bei einem schönen Porzellanteller, der bricht und den man wieder zusammenklebt, werden die Risse auf ewig bleiben. Die Beziehung zwischen Band und Publikum ist etwas sehr Delikates – wer dies ausnutzt, der hat es sich bei mir verbockt.“
Auch Parity- und Echosex-Sängerin Sandra Lutz verurteilt das Ausnutzen einer solchen Machtposition: „Als Lead-Sängerin sehe ich mich in einer gewissen Verantwortungsposition, vor allem wenn ich auf der Bühne stehe. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich mir vorstelle, dass eine mächtige Person, unabhängig davon, in welcher Branche diese tätig ist, sich an dieser Hingabe junger Fans ergötzt und diese ausnutzt. Machtgefälle gibt es überall und viele nehmen diese Situation stillschweigend hin, ob aus Angst, Scham oder anderen Gründen – es ist an der Zeit, dieses Schweigen ein für alle Mal zu brechen.“
Der Marc Dutroux des Emo-Punk
Falls sich die Anklagen gegen Lindemann bewahrheiten sollten, wäre es nicht das erste Mal, dass ein Sexualverbrecher auf dem Herchesfeld aufgetreten wäre: „2012 hatten wir die Lost Prophets für das Rock a Field gebucht“, erinnert sich Michel Welter. „Etwas später las ich, dass der Sänger verurteilt wurde – als ich ihm damals über den Weg gelaufen bin und ihm durch Zufall in die Augen sah, wurde mir klar, dass mit dem etwas nicht stimmt.“
Lost-Prophets-Sänger Ian Watkins wurde ein Jahr später vor Gericht zu 35 Jahren Haft verurteilt, weil er versucht hatte, Kinder, darunter einen zehn Monate alten Säugling, zu vergewaltigen – unter dem Einverständnis zweier betroffener Mütter. Dass die Schandtaten dieses Marc Dutroux des Emopunks weniger Schlagzeilen machten als der Fall Lindemann heute, zeigt wohl, dass sich die mediale Thematisierung der (bei Lindemann: mutmaßlichen) Verbrechen eines Rockmusikers auch an seinem Bekanntheitsgrad messen.
Da ich mich vielmehr in, teils naiver, wissenschaftlicher Faszination mit der Funktionsweise der Texte, der Rhythmik und den rhetorischen Mitteln beschäftigt habe, habe ich vermutlich versäumt, die Texte distanzierter mit den Ohren einer doch selbstbestimmten, emanzipierten Frau zu rezipieren
Sein Urteilsvermögen hinterfragen
Sandra Lutz resümiert ihre damalige Begeisterung für Rammstein folgendermaßen: „Ich war noch sehr jung, als ich die Musik von Rammstein entdeckte. Anfangs fand ich die Liedtexte ziemlich abstoßend, gar verstörend. Aber genau diese Empörung war der Auslöser dafür, dass ich mich näher mit der Materie zu befassen begann und über die Jahre quasi eine Faszination für das Mysterium ‚Rammstein‘ entwickelte.
Ich habe mich, neben der Musik, vor allem mit den Songtexten, wissenschaftlichen Essays, Werner Lindemanns Buch ‚Mike Oldfield im Schaukelstuhl‘ über die Jugendzeit seines Sohnes oder auch den beiden Büchern von Rammstein-Keyboarder Flake auseinandergesetzt. Immer wieder habe ich in meinem Umfeld über die Grenzüberschreitung der Band durch unter anderem Lyrik und Inszenierung debattiert, hörte mir alle Theorien und Ansichten an und war nunmehr interessiert daran herauszufinden, wie dieses Konstrukt überhaupt funktioniert. Ich persönlich habe aus dieser Abartigkeit, Provokation und überspitzten Darstellung toxischer Männlichkeit eine skurrile Art (oder Kunst?) des ‚Den-Finger-in-die-Wunde-Legens‘ extrahiert, die eben zum Image von Rammstein dazugehörte.“
Umso vehementer fiel ihre Reaktion aus, als sie von den Anklagen erfuhr: „Ich war entsetzt und aufgewühlt. Ich habe allerdings auch mein eigenes Urteilsvermögen infrage gestellt, wie man denn all die Jahre mit seiner Einschätzung und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema so daneben liegen könne. Vor allem, und das ging bestimmt vielen (ehemaligen) Rammstein-Fans so, hat man sich regelmäßig dabei ertappt, wie man die Band gegenüber Kritiker*innen teilweise versucht hat in Schutz zu nehmen und zu rechtfertigen, es sei doch bloß Kunst. Es schwirren einem etliche Fragen im Kopf umher, die wahrscheinlich zum Teil unbeantwortet bleiben werden. Unter anderem stelle ich mir die Frage, ob es auch hier in Luxemburg Betroffene geben könnte.“
Persona non grata: vom Backstage im Backstage
Die Organisatoren wissen davon auf jeden Fall nichts: „Zur Zeit des Konzerts in Herchesfeld gab es weder eine Row Zero noch eine russische Casting-Agentin – oder, falls sie dann da gewesen sein sollte, wusste zu dem Zeitpunkt niemand, wer diese Frau ist und welche Funktion sie haben würde. Ich habe auf jeden Fall nichts von einem abwegigen Verhalten mitbekommen. Dabei möchte ich präzisieren, dass es im Backstage einen Bereich gab, zu dem selbst wir keinen Zugang hatten, sodass niemand mit Sicherheit sagen kann, was sich dort abgespielt hat. Generell halten wir uns bei all diesen Backstage-Exzessen raus – wir sind da sehr vorsichtig und organisieren bspw. nie Drogen, obschon man uns das oft fragt. Damit würden wir uns ja strafbar machen.“
Dass es im Backstage Bereiche gibt, in denen selbst die Organisatoren personae non gratae sind, ist anscheinend nicht außergewöhnlich: „Als Musiker habe ich schon mitbekommen, auf welchem Level das Tourleben verschiedener Stars abläuft“, erzählt John Rech. „Im Kontakt zu Musikern wie Bruce Springsteen, Bon Jovi oder Sting lief alles immer so down to earth ab, dass man sich da gar keine Situation der Übergriffigkeit vorstellen kann. Bei Michael Jackson aber gab es sozusagen ein Backstage im Backstage im Backstage – es gab ein allgemeines Backstage, eins für die Produktion und eins für Michael Jackson, weswegen man natürlich keine Einsicht darüber hatte, was da in der Hochburg so abging. Als Veranstalter habe ich noch nie mit Übergriffen zu tun gehabt – das Wüsteste, was wir erlebt haben, waren Menschen, die ein Tennisfeld oder ein Fitnessstudio privatisieren wollten.“
Mehr Transparenz
Bei größeren Events, die John Rech in Düdelingen (mit)organisiert – wie bspw. das USINA oder die „Fête de la musique“ –, läuft alles viel transparenter ab: „Bei uns überwiegt die Sicherheit des Publikums, ganz gleich wie groß der Name des Musikers. Dafür gibt es in Düdelingen bei Events eine große Sicherheitsauflage. Wir tauschen uns ständig mit der Polizei, dem CGDIS und den Sicherheitsfirmen aus, die Polizei hat Zugang zum Backstage und auch unsere Versammlungen finden dort statt – diese Transparenz ist uns wichtig.
Manche Musiker haben sicherlich ihre Macken, aber wir mussten noch nie eingreifen. Und falls ja, dann war es wegen belangloser Sachen, wie bspw. eine Band, die eine andere Band mit Kuchen bewirft. Bei unseren Events sorgen wir nicht nur für Sicherheit auf und hinter der Bühne, sondern sorgen uns auch um unser Publikum. Deswegen gibt es den Citybus, der Menschen in ihre Viertel bringt, es gibt Sicherheitsbeamten auf den Parkplätzen und wo auch immer wir es für notwendig halten. Zudem haben wir mittlerweile ein ,Regard extérieur‘: Menschen, die unabhängig von uns und den Sicherheitsbeamten beobachten, was wir tun und uns helfen, Dinge zu verbessern.“
Vielleicht muss die Sache mit dem Backstage im Backstage aufhören, vielleicht muss alles transparenter werden und wieder auf menschlicher Augenhöhe miteinander geredet werden
Auswirkungen auf die Rockszene
Der Fall Lindemann könnte weitläufigere Auswirkungen auf die Rockmusikszene haben, weil die Konzerterfahrung, die man bisher als unbeschwerte Klammer von einem stresserfüllten Alltag sah, nun einen schalen Beigeschmack bekommen könnte: „Als Booker ist man selbstverständlich betroffen und ergriffen“, so Michel Welter. „Dabei haben wir die größtmögliche musikalische Toleranz – denn sogar beim brutalsten aller Metalkonzerte trägt der Fan eine positive Emotion davon. Das hier, falls es denn stimmt, ist das genaue Gegenteil. Musikalisch sind mir Rammstein eigentlich egal, aus der Sicht des Bookers wäre es vorteilhaft, wenn er freigesprochen würde, weil dieser Fall der gesamten Industrie schadet – denn letztlich sind wir Vermittler positiver Emotionen, sind Verkäufer positiver Vibes. Wenn das, wofür wir stehen, nun mit negativen Erfahrungen konnotiert wird, zerbricht etwas.“
Sandra Lutz denkt, dass es in der Rockszene in nächster Zeit einen Umbruch geben könnte. „In welche Richtungen dies gehen wird, wage ich zum heutigen Zeitpunkt nicht einzuschätzen. Ich hoffe, dass reflektierter mit Themen umgegangen wird und eine authentische Kunst entsteht, die von Betroffenen geschaffen und genutzt wird, um unsere gesellschaftlichen Narben aufzuzeigen. So können wir im Sinne der Bewusstseinsschärfung und Sensibilisierungsarbeit ein Verständnis für bestimmte Themen entwickeln und dies in unserem kollektives Gedächtnis verankern.“
Das Ende des lyrischen Ichs?
Problematisch ist zudem, dass Lindemanns provokante Lyrics, die man bisher seinem lyrischen Ich zuschreiben konnte, vielleicht bloß Ausdruck seiner biografischen Person und deren kriminellen Fantasmen waren – sprich, dass die Prämisse der Trennung zwischen Künstler und Mensch, auf der die Ausdrucksfreiheit des Künstlers fußt und die eigentlich die Bedingung künstlerischen Schaffens sein müsste, nicht nur wackelig wird, sondern durch Fälle wie die Affäre Lindemann irgendwann riskiert, hinfällig zu werden, sodass in einer (nicht mal so) dystopischen Zukunft die Künstler aufgrund dessen, was sie in ihren Büchern, Filmen, Theaterstücken erdichtet haben, zur Rechenschaft gezogen werden könnten.
„Noch vor ungefähr sechs Wochen war ich der Meinung, man sollte Mensch und Künstler voneinander trennen“, so Sandra Lutz. „Das lyrische Ich erlaubt Eskapaden, Tabus und das überspitzte Darstellen von Situationen. Ich bin überzeugt, dass Empörung die stärkste Form des Wachrüttelns ist und das lyrische Ich gibt uns eben diese Möglichkeit, uns in Welten hineinzutrauen, die man als Mensch niemals bereisen würde. Nun hat der Sachverhalt sich für mich persönlich jedoch verändert. Ich stelle mir gehäuft Fragen über diese Grenzen und kenne zu diesem Zeitpunkt noch keine ausführliche, für mich zufriedenstellende Antwort auf diese Fragen. Da ich mich vielmehr in, teils naiver, wissenschaftlicher Faszination mit der Funktionsweise der Texte, der Rhythmik und den rhetorischen Mitteln beschäftigt habe, habe ich vermutlich versäumt, die Texte distanzierter mit den Ohren einer doch selbstbestimmten, emanzipierten Frau zu rezipieren.“
Provokation ade?
Genauso wie die Trennung zwischen Künstler und Mensch stellt der Fall Rammstein provokante Kunst in ein schlechtes Licht, weil sich der Verdacht generalisieren könnte, hinter jeder Provokation stecke nicht nur ein Quäntchen biografischer Wahrheit, sondern eine Eins-zu-Eins-Gleichung zwischen Vorstellungskraft und Trieben.
„Für mich persönlich lebt die Kunst von Provokation und vom Halten des Scheinwerfers dahin, wo es am dunkelsten ist“, erläutert Sandra Lutz. „Ich glaube, und hoffe, dass es immer mehr zu einer Strömung in der Kunst kommen wird, die von den Menschen geschaffen wird, die auch tatsächlich von den darzustellenden Umständen und Geschehnissen betroffen sind und nicht von Laien, die durch das vermeintliche Aneignen von Themen und Problematiken die eigentlichen Betroffenen quasi mundtot machen. Es ist und bleibt jedoch eine schwierige, aber auch interessante Debatte, über welche man stunden-, wenn nicht sogar tagelang diskutieren könnte.“
Ausnahmezustand: zwischen Albatros und Gottheit
Im 19. Jahrhundert dachte Charles Baudelaire, Künstler und Lyriker müssten eigentlich einer anderen, eigenen Gesetzgebung unterliegen. Diese Überlegung gründete auf Baudelaires Bild des „poète maudit“, das er mit seiner Albatros-Metapher verdeutlichte: In einer Gesellschaft, die auf Effizienz, Leistung und Produktivität aus ist, ist der Künstler dazu verdammt, eine marginale Randexistenz zu führen. Seine radikale Andersartigkeit führt dazu, dass er die Gesellschaft genauso verpönt wie sie ihn: „ses ailes de géant l’empêchent de marcher“.
Einige Künstler scheinen Baudelaires Forderungen wohl aber als Vorwand genommen zu haben, um sich, von der Märtyrerposition des leidenden Künstlers ausgehend, auf ein Podest stellen zu lassen und sich dort über die menschlichen Gesetze hinwegzusetzen – was sicherlich nicht im Sinne von Baudelaires marginalisierten Poeten war. Aber jene Hybris könnte jenen Musikern demnächst teuer zu stehen kommen.
„Ich habe vorhin gemeint, es täte der Industrie gut, wenn sich Lindemann als unschuldig erweisen und er freigesprochen würde. Andererseits wäre ein Eklat vielleicht gut, weil auf diese Art so einige Verhaltensmechanismen mal hinterfragt werden“, meint Michel Welter. „Wir sehen ja so einige Musiker, die einen gewissen Bekanntheitsgrad haben. Und einige davon ticken definitiv nicht mehr ganz richtig, eben weil sie auf ein Podest gestellt werden, weil man ihnen nie eine Absage erteilt, weil man sie anhimmelt und verhätschelt. Das führt manchmal zu einem sehr ungesunden Verhalten. So gab es einen Musiker, dessen technischer Vertrag stipulierte, dass niemand von unserer Crew ihm in die Augen schauen dürfte. Andere möchten nicht, dass man mit ihnen redet – sowas kommt gar nicht mal so selten vor. Bei solchen Forderungen ist es ja normal, dass dein soziales Verhalten eine Delle bekommt.“
Der Fall des Ikarus
John Rech sieht das ähnlich: „Dass Menschen von Situationen profitieren und ihre Bodenhaftigkeit verlieren, gibt es leider überall. Dass dies nun thematisiert wird, ist wichtig. Vielleicht ist dies die Gelegenheit für einige Stars, sich infrage zu stellen und zurückzurudern – nicht nur, was Übergriffe anbelangt. Wenn man bedenkt, wie die Welt der Live-Musik vor kurzem gelitten hat und was eine Konzertkarte kostet, ist es vielleicht nicht so wichtig, ein 36-seitiges Catering reinzuschicken oder mit Limousinen durch die Gegend zu brausen. Und vielleicht muss die Sache mit dem Backstage im Backstage aufhören, vielleicht muss alles transparenter werden und wieder auf menschlicher Augenhöhe miteinander geredet werden.
Denn bei allem Respekt, den ich für Musiker habe, und ich bin bereits einigen meiner persönlichen Helden begegnet: Auch für sie gelten die Regeln und Gesetze, die für uns alle gelten. Je abgeschirmter du bist, desto größer sind die Chancen, dass du die Bodenhaftigkeit verlierst.“
Klaffende Wunde
In Sachen Awareness findet auch Sandra Lutz mutige und ehrliche Worte: „Das Thema ist allgegenwärtig und beschäftigt mich sehr. Ich bin in meiner persönlichen, jungen Laufbahn, wie – so wage ich zu behaupten – der Großteil aller weiblichen Personen, bereits Opfer von sexueller Belästigung und emotionaler Gewalt geworden. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte auf diese Fragen zu finden, ohne dabei pauschal zu klingen. Denn dieses Thema ist eine klaffende Wunde in unserer Gesellschaft, die tagtäglich – im übertragenen Sinne – erneut entzündet und vereitert, meist aber unbehandelt bleibt. Es ist ungemein wichtig, dass es Frauen gibt, die den Mut aufzeigen, ihre Stimme zu erheben und so zu ermöglichen, dass gegen jegliche Formen der Gewalt, der Unterdrückung und des Machtmissbrauchs vorgegangen werden kann.
Ich setze mich in meinen eigenen Texten, ob Prosa oder Lyrik, mit der Thematik auf unterschiedliche Art und Weise auseinander. In meinen Augen besteht das größte Problem darin, dass allgemein noch nicht genügend Bewusstseinsschärfung und Sensibilisierungsarbeit zu diesem Thema betrieben wird. Ich möchte an dieser Stelle meine Solidarität aussprechen an alle Frauen, die jeglicher Form von (sexueller) Gewalt zum Opfer gefallen sind. Ich hoffe, sie finden die nötige Kraft, diese dunklen Zeiten durchzustehen.“
So hat der Fall Lindemann bereits jetzt schon dazu beigetragen, dass ein gesellschaftliches Tabu in der Öffentlichkeit stärker denn je thematisiert wird. Fast ist es schon ironisch, dass er nun nicht mehr durch seine Kunst, sondern sein Privatleben den Finger in eine Wunde legt, die er vielleicht selbst zugefügt hat.
(*) Philippe Lejeune, Le pacte autobiographique, Editions du Seuil, Paris 1996.
Info
Trotz mehrerer Nachfragen wollte die Rockhal keine Stellung zum Thema nehmen und verwies auf ein Statement internationaler Booker, aus dem u.a. hervorgeht, dass die Musikagentur Gadget ABC, die Rammsteinkonzerte in Bern organisierte, auf einen offenen Brief der Bürgerbewegung JUSO Switzerland reagiert hat. In ihrer Stellungnahme erklärt die Agentur, in Ermangelung von Beweislagen gebe es keine rechtliche Grundlage, Konzerte der Band zu canceln – und das würde man auch auf Basis von Vorurteilen nicht tun.
Auf die Frage, ob das Kulturministerium – die meisten Konzerthallen hier in Luxemburg sind staatlich konventioniert – über eine Art Code of Conduct für Booker nachdenke, reagierte das Ministerium, indem man auf die vor kurzem aufgestellte „Charte de déontologie“ verwies, sich der Problematik bewusst zeigte und zu verstehen gab, dass jede konventionierte Institution einen Ansprechpartner im Ministerium hätte, mit dem zu jedem Zeitpunkt diskutiert werden könnte, wie man solche Situationen verhindert.
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