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EditorialFront gegen Frontex: Kritik an Grenzschützern ist auch ein Kampf um Europas Menschlichkeit

Editorial / Front gegen Frontex: Kritik an Grenzschützern ist auch ein Kampf um Europas Menschlichkeit
Ein Kind auf dem Weg ins Moria-Camp im Jahr 2016: Fünf Jahre später hat sich nichts gebessert, auf Kosten von Menschenrechten ringt die EU weiter um eine gemeinsame Flüchtlingspolitik – nicht zuletzt wegen ihres Vorgehens in der Ägäis sind auch Frontex-Beamte in die Kritik geraten  Foto: AP/Petros Giannakouris

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Welche Flüchtlingspolitik will Europa? Wie sollen unsere Außengrenzen geschützt werden? Was ist erlaubt – oder eher noch: Was sollte erlaubt sein? Das Zerren um Frontex lässt jenen Grundkonflikt aufflammen, der die Europäische Union seit Jahren entzweit, den die Corona-Krise aber, wie alles andere, medial überdeckt hat.

Europas Grenzschützer stehen seit Monaten massiv in der Kritik. Diese entlädt sich an Fabrice Leggeri, dem Chef der Behörde, die bis 2027 von jetzt 1.000 auf dann 10.000 Beamte aufgestockt wird. Es geht um finanzielle Ungereimtheiten, mangelhaften Führungsstil, schleppende Einstellung von Menschenrechtsbeobachtern – vor allem aber um illegale Pushbacks in der Ägäis.

Auch einer Frontex-internen Untersuchungsgruppe – das Tageblatt konnte ihren Abschlussbericht diese Woche vorab einsehen – gelang es nicht, alle Zweifel darüber auszuräumen, ob EU-Beamte dabei zugeschaut haben, wie die griechische Küstenwache Schlauchboote zurück in türkische Gewässer trieb, ohne den Insassen ihr Recht auf einen Asylantrag zu geben. Was illegal ist – Frontex aber offensichtlich legalisiert haben will.

Nicht anders lesen sich die Empfehlungen im Bericht. Nicht anders klingen die Forderungen Leggeris gegenüber Europaabgeordneten und besonders der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Nach Medienberichten über mutmaßliche Frontex-Verwicklungen in Pushbacks durch die griechische Küstenwache war es insbesondere Johansson, die gegen Leggeri und Frontex in den Ring gestiegen war.

Als Verteidigungslinie versucht Frontex nun, den Spieß umzudrehen. Ohne rechtliche Klarheit sei Fehlverhalten kaum vermeidbar, argumentieren die Untersuchungsgruppe wie auch Leggeri und nehmen Bezug auf ein umstrittenes Urteil. Im Februar 2020 wies der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die Klage zweier Männer aus Mali und der Elfenbeinküste zurück, die ohne Verfahren von der spanischen Polizei zurück nach Marokko gebracht worden waren, nachdem sie die Grenzsperren zur spanischen Exklave Melilla überwunden hatten. Dem Urteil der Richter zufolge hätten sich die Betroffenen „selbst in eine unrechtmäßige Situation“ gebracht, Spanien habe das Verbot der Ausweisung ganzer Gruppen an Menschen nicht verletzt. Und bei Frontex fragt man sich offensichtlich, ob das nicht auch im Meer so sein könnte.

Pushbacks legalisieren, statt sie zu unterbinden, scheint den Grenzschützern der einfachere Weg. Die EU-Kommission wehrt sich gegen diese Auslegung. Jeder habe Anrecht auf einen Asylantrag, erinnert Johansson Frontex in einem Schreiben an geltendes Recht. Doch nicht alle EU-Staaten sind dieser Meinung. Das weiß man bei Frontex – und forciert das Armdrücken um die Auslegung, wie die „Festung Europa“ künftig aussehen soll.

Dass sie ausgebaut wird, daran besteht kein Zweifel. Die Aufstockung der Behörde war nie dazu gedacht, dass am Ende tausende EU-Grenzschützer in Booten rumfahren und Flüchtlinge aus Seenot retten. Die elf Milliarden Euro, die bis 2027 in die Behörde fließen, sollen Europas Außengrenzen abriegeln, keine Frage, und die Frontex-Truppen sollen sie absichern. Das war eine politische Entscheidung der EU-Staaten.

Der Streit um Frontex eröffnet jetzt die Schlacht um die Frage, wie das geschehen soll. Wie es ausschaut, gibt es die Bereitschaft in Teilen der EU, auch unseren letzten Rest an Menschlichkeit über Bord zu werfen. Gut, dass Teile der Zivilgesellschaft, der Presse und auch der Politik noch dagegenhalten.