Seit 35 Tagen, liebes Tagebuch, sitze ich nun hier, in der – zugegeben relativ komfortablen – Isolierung und allmählich fällt mir nichts Neues mehr für dich ein. Die Tage ziehen sich hin, einer gleicht dem anderen, außer dass sonntags keine Tageszeitung im Briefkasten liegt und neben den Informationen und Berichten über Corona und seine Folgen, das Kreuzworträtsel fehlt.
Diese erzwungene Monotonie lässt jedoch ausreichend Zeit und Gelegenheit, in sich zu kehren. Vor einer Woche hatte ich an dieser Stelle über den unsichtbaren Feind sinniert. Heute möchte ich dir meine Gedanken über die Ereignisse anvertrauen, die die Welt verändern.
Seit 46 Jahren bin ich nunmehr journalistisch tätig, in einem Beruf, der nach wie vor mein Traumberuf ist und in dem ich mich bislang noch keine Minute gelangweilt habe. Auch nicht im aktuellen Lockdown. Aus meiner langjährigen Warte heraus habe ich mich im Zusammenhang mit der Pandemie jedoch gefragt, an wie viel derartig weltbewegenden Ereignissen ich im Lauf meiner Karriere teilhaben konnte.
Der Fall der Berliner Mauer fällt mir spontan ein, aber auch die Schengener Verträge, die vor 25 Jahren die Grenzen öffneten und damit die große Mobilität möglich machten, die heute teilweise als Verursacher der Krankheit und der darauf erfolgten allgemeinen Stilllegung angesehen wird. Die konkrete Einführung des Euro am 1. Januar 2002 war ebenfalls ein bahnbrechender Moment in der europäischen Geschichte. Für unser Land sind die Übernahme der Arbed durch die Aceralia und Usinor im Jahr 2002 und mehr noch die Fusion mit Mittal im Jahr 2007, die aus dem in Luxemburg angesiedelten Unternehmen den größten Stahlproduzenten der Welt machte, zur Reihe der bedeutenden Änderungen zu zählen.
Direkte Kriegserlebnisse habe ich glücklicherweise keine mehr. Es hat zwar Kriege gegeben, im Golf und im Balkan, ich habe sie auch journalistisch begleitet, sie hatten jedoch, trotz aller dramatischen Folgen, keine Auswirkung auf unseren Alltag. Die Kriege in Syrien, Jemen und Libyen machen zwar Druck auf die europäische Politik, betreffen uns als Einzelpersonen jedoch nicht direkt.
Das gilt auch für große Naturkatastrophen wie den Tsunami 2004 in Indonesien, bei dem 230.000 Menschen starben, oder das Erdbeben auf Haiti, das 300.000 Menschenleben forderte. Ich weiß auch noch ganz genau, wie ich auf die Terroranschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 reagiert und geschrieben habe.
Alle diese Ereignisse waren Dramen. Sie haben teilweise weitaus mehr Leben gefordert als die aktuelle Pandemie. Sie hatten aber nicht die weitreichenden Auswirkungen und sie werden auch nicht den Paradigmenwechsel herbeiführen, der jetzt unweigerlich stattfinden wird.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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