Der Erde ist nicht mehr zu helfen – sie „fällt aus dem Takt“, weil sie „Menschen hat“. So urteilen die restlichen Planeten, in etwa in dem Tonfall, in dem jemand behaupten würde, sein Hund hätte Flöhe. Nachdem Mars, Venus, Saturn, die Sonne und der Mond als „special guests“ während einer Art Goethe’schem Prolog in einer finsteren Ecke unseres Sonnensystems lange debattiert haben, steht die Entscheidung: Komet Konrad (Tatiana Nekrasov) wird damit beauftragt, die Erde zu zerstören.
Professor Guck (Jean-Paul Maes) ist unter den Erdbewohnern der einzige, der die Gefahr sieht – die Menschheit selbst hingegen übt sich, wie so oft, in Selbstbetrug, bevorzugt es, den Kopf in den (nationalsozialistischen) Sand zu stecken, gibt sich dem faschistoiden Zeitgeist hin und reagiert wie zurzeit ein Großteil der Erdbevölkerung in Hinblick auf eine nicht mehr zu leugnende Klimakatastrophe: nämlich, wenn überhaupt, viel zu spät.
Und im Endeffekt basteln die reichsten unter den Reichen ein Weltraumschiff und planen, mit dieser Mischung aus Arroganz und Inkompetenz, die die Spitzenreiter des Neoliberalismus kennzeichnet (und die man zurzeit auch ganz toll in Ruben Östlunds Palme-d’Or-Gewinner „Triangle of Sadness“ aufs Korn genommen sehen kann), die Erde zu verlassen.
Klingt einerseits, was Weltuntergangsstimmung, Salonfähigkeit (wobei letzterer Begriff mittlerweile fast schon ein Euphemismus ist, Stichwort: Italien) der Rechtsextremen und Blindheit angesichts anstehender Katastrophen anbelangt, wie ein brandaktuelles Stück aus unserer Zeit, andererseits aber nach einem etwas fantasievolleren Resümee der gefälligen, überbewerteten und doch äußerst erfolgreichen Netflix-Produktion „Don’t Look Up“.
Ehre wem Ehre gebührt – aufgedeckt hat dieses (schon etwas dreiste) Plagiat TNL-Dramaturg Florian Hirsch, ich selbst hatte diesen Streifen einmal verkatert im Bett gesehen und quasi sofort wieder vergessen. Ästhetische und stilistische Parallelen mit dem Netflix-Film gibt es glücklicherweise keine, dafür ist Soyfers Text zu subtil, seine Gesellschaftskritik zu politisch und zu mutig – und Jean-Paul Maes ist nicht Leonardo Di Caprio.
Der Weltuntergang als Gentleman
Uraufgeführt wurde Jura Soyfers Stück im Mai 1936 am Wiener ABC-Theater. Es war damals einer der letzten Momente, zu denen es noch möglich war, Witze über Hitler zu machen und vor den gefährlichen Denkmustern des erstarkenden Antisemitismus auf eine kritische und humorvolle Art zugleich in den Wiener Kellertheatern zu warnen.
Auf einer minimalistischen, von Schirmen gesäumten, mal im klinischen Labor-Weiß, mal im Endzeit-Rotstich beleuchteten Bühne (Christoph Rasche) entdeckt der Zuschauer nun, zwei Monate vor dem 110. Geburtstag von Soyfer, einen starken Text – und stellt fest, wie viel Humor, Wahrheit und Scharfsinn in diesem sehr lustigen und trotz allem Zynismus hoffnungsspendenden Stück steckt.
„Unser Himmel hängt voll Geigen – und Granaten“, verkünden Lautsprecher zu Beginn. Die internationale Presse warnt vor dem Untergang und stößt damit auf Gleichgültigkeit; der Führer meint, der Weltuntergang wäre eine „völkische Erfindung“, kann mit dem Begriff „Menschheit“ wenig, mit dem sehr deutschen Substantiv „Massenhinrichtung“ jedoch sehr viel anfangen, wütet über Freimaurerei, Weltjudentum, Bolschewismus und „jüdische Physik“.
Ein paar Diplomaten bangen um das europäische Gleichgewicht und schlagen vor, in puncto Weltuntergang „bis zehn Tage nach dem Weltuntergang zu vertagen“, ein englischer Beamte sieht nur die wirtschaftlichen Vorteile, da die Konsumenten in bester Covid-Klopapiermanier „kaufen, kaufen, kaufen – zahlen ohne zu zählen“, ein Selbstmörder mag wenige Stunden vor der Apokalypse unbedingt in die Donau gehen, weil ihn seine „Mausi“ verlassen hat und Professor Guck schlussfolgert, dass sich die Menschen so sehr „mit dem Leben herumschlagen, dass sie gar nicht dazu kommen, an den Tod zu denken“ – Soyfers Menschheit ist dämlich, ohne karikaturhaft zu sein, der Autor analysiert das Verhalten seiner Mitmenschen scharfsinnig, empathisch, am Ende gar mit einer gewissen Zärtlichkeit, die, weiß man um Soyfers weiteren Lebenslauf, schmerzhaft tragische Konturen annimmt.
Verspielt, humorvoll und kritisch
Denn nur ein Jahr nach der Uraufführung dieses visionären Textes sollte der im damals zaristischen Charkow (heutzutage das ukrainische Charkiw) geborene Jude Jura Soyfer wegen „kommunistischer Aktivitäten“ festgenommen werden. Was dann passiert, ist so voraussehbar wie tragisch: 1938 liefert man ihn in Dachau ein, kurz danach wird er nach Buchenwald überführt, wo er mit 26 an einer Typhuserkrankung stirbt. Was bleibt, ist das Werk – weswegen Frank Hoffmann und Florian Hirschs Entscheidung, Soyfers „Weltuntergang“ auf die Bühne des TNL zu bringen, sowohl aus historischer wie aus zeitgenössischer Perspektive mehr als sinnvoll ist.
Ganz zu Beginn starren die fünf Schauspieler*innen – Ulrich Kuhlmann, Jean-Paul Maes, Anne Moll, Tatiana Nekrasov sowie Nickel Bösenberg, der aus Krankheitsgründen am Donnerstagabend von Frank Hoffmann himself abgelöst wurde – auf einen der vielen Schirme, auf denen sich die Beckettschen Träume hypnotisch entfalten und denen der Zuschauer, wie in einer „mise en abyme“, nachkuckt.
Wenn sich auch nicht so ganz erschließt, wie Becketts besinnlich-dunkle „Nacht und Träume“ in Verbindung mit dem weit überdrehteren Text von Soyfer gebracht werden soll, schadet dies der Produktion in dem Sinne jedoch nicht, da sich zwischen den Bildern des Beckett-Prologs und dem politischen Text von Soyfer Interpretationsräume öffnen, die jeder und jede mit Sinn und Gedanken zu füllen vermag.
Etwas bedauerlich ist eigentlich nur, dass Frank Hoffmann auf eine vollwertige Inszenierung verzichtete und sich mit einer (guten) szenischen Lesung begnügte – angesichts der Qualität des Textes und seinem Aktualitätsbezug, der es auf eine beängstigende Art erlaubt, Brücken zu den faschistoiden, nationalsozialistischen 30ern zu schlagen, aber auch wegen der Verspieltheit, des Humors und der Vorstellungskraft von Jura Soyfers Textvorlage wäre es durchaus spannend gewesen, die geballte Kraft dieses Werks in einer Inszenierung zu sehen.
So steht der Text dann doch manchmal zwischen der Bühne und den Schauspieler*innen, die sichtlichen Spaß daran haben, in die Rollen der Planeten, der dämlichen Beamten und Diplomaten zu schlüpfen. Aber wer weiß: Da sich das TNL dazu entschlossen hat, verstärkt auf Nachhaltigkeit und Wiederaufnahmen zu setzen, werden wir vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt in den Genuss genau dieser Inszenierung kommen.
Info
Aus Krankheitsgründen wurde die nächste TNL-Produktion „Schnéiwäiss Männer“ auf das kommende Wochenende verlegt. Karten für die Vorstellungen am Samstag (20.00 Uhr) und Sonntag (17.00 Uhr) gibt es auf www.tnl.lu.
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