Ein paar Jugendliche spielen Fußball, als es passiert: Um die Flugbahn des Balls zu verfolgen, schaut der Torwart gen Himmel – und sieht, wie eine Rakete in die naheliegende Ölraffinerie einschlägt. Wir schreiben das Jahr 1980, die iranische Ölmetropole Abadan wird von der irakischen Armee angegriffen. Der 14-jährige Omid sprintet nach Hause, wo er gerade noch mitbekommt, wie sein älterer Bruder in einen Transporter steigt, der junges Kanonenfutter an die Front bringt.
Wer nicht an die Front kann, ergreift die Flucht: Omids Mutter fleht ihren Sohn an, zusammen mit dem Rest der Familie ins Exil zu gehen, der Jugendliche möchte seinen Bruder jedoch nicht zurücklassen und bleibt mit seinem ebenso sturen Großvater in Abadan. Schließlich kommt er aus einer Kapitänsfamilie – und deren Pflicht ist es, die Stellung zu halten, selbst oder vor allem, wenn das Schiff sinkt.
Zuerst wird Omid in diesem Mikrokosmos der Zurückgebliebenen verspottet – sein Moped hat einen Platten und sein Kampfhuhn ist mehr Angsthase als zorniger Gockel. Auf die Frage, wo sein Bruder sei, meint ein geschäftiger General bloß: „Jeder hier will wissen, wo irgendwer ist. Wir sind doch keine Presseagentur.“
Doch hält sich der junge Mann die Legende seines heldenhaft auf See verschollenen Vaters vor Augen und übernimmt, nachdem Farshids Auto von einer Bombe getroffen wurde und der junge Mann sein Überleben Omid und dem zur Bandage umfunktionierten Kopftuch eines unbekannten Mädchens verdankt, dessen Lieferdienst.
Im Kriegsalltag – so schrecklich dieses deutsche Patchwork-Substantiv auch klingen mag: Regisseurin Sepideh Farsi stellt überzeugend dar, wie sich diese Gemeinschaft irgendwann an die Bomben und das Blutvergießen gewöhnt – lernt Omid nach und nach die Verbliebenen kennen: Da wären der Engineer, der die Raffinerie gebaut hat und das Land niemals verlassen möchte, die Sängerin, der seit der Revolution das Singen verboten wurde, ihre Tochter Parsi, in die sich Omid verliebt, der Fotograf, der keine Filmrollen mehr hat, weil die gesamte Produktion an Kriegsfotografen geht, die gläubigen Armenier, die ihre Jungfrau retten wollen, oder der Koch, der die ganze Stadt ernährt.
Als Lieferbote fährt Omid durch das Minenfeld seiner zerbombten Stadt, rast durch Ruinen und sieht, wie das Fußballfeld immer verlassener wirkt – das einzige Spiel, das noch gespielt wird, ist der Hahnenkampf, ein blutrünstiges Vergnügen, ganz so, als ob in der eingekesselten Stadt selbst Unterhaltung nur noch mit dem Tod assoziiert sein kann.
In diesem berührenden, recht geradlinig erzählten Film wird das ewige Thema der Absurdität des Krieges aus der Perspektive eines jungen Menschen behandelt, dessen hartnäckige Naivität und Einfallsreichtum ihn (und seine Mitstreiter) am Ende retten. Trotzdem gelingt es dem Film, das „La vita è bella“-Syndrom zu vermeiden, weil der junge Omid im Laufe des Films zwar seine Naivität, dafür aber nicht seine Hoffnungen und Träume ablegt.
Auch visuell ist der Animationsfilm ansprechend, die gezeichnete Welt wirkt in ihren schonungslosen Bildern zwar manchmal zu ästhetisch – selbst die Leichenhaufen sind nicht wirklich hässlich –, so verleiht Farsi dem Film jedoch eine teils surreale Form, mit der sie die Gräuel des Krieges kontrastieren kann.
Wie beim Eröffnungsfilm „She Came to Me“ spielt auch bei „The Siren“ am Schluss ein Kutter eine tragende Rolle. Und auch hier findet sich irgendwann eine wild zusammengewürfelte Menschengruppe auf besagtem Kutter zusammen. Im Gegensatz zum etwas belanglosen „She Came to Me“ stellt die finale Sequenz aber einen gänzlich unkitschigen Hoffnungsschimmer dar, der die alttestamentarische Noah-Arche in einer zeitgenössischen, von Gott verlassenen Welt wieder aufleben lässt.
„La sirène“ wurde von Luxemburg (BAC Cinéma – David Grumbach), Frankreich, Deutschland und Belgien koproduziert.
Berlinale-Rating: 3/5
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