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EditorialEin Jahreswechsel zwischen Untergang und Katharsis

Editorial / Ein Jahreswechsel zwischen Untergang und Katharsis
Zum Jahreswechsel vor einem Jahr waren die Hoffnungen noch groß, die Pandemie bald besiegt zu haben Foto: dpa/Jonas Walzberg

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Explodierende Infektionszahlen, mutierende Covid-Varianten, Reisebestimmungen und Einschränkungen dominieren seit Monaten die Schlagzeilen. Ich spreche wohl vielen Lesern aus dem Herzen, wenn ich schreibe: Es reicht! Ich kann das Wort Corona nicht mehr hören. Wie gerne hätte ich den letzten Leitartikel des Jahres einem anderen Thema gewidmet. Doch so sehr ich meine mir noch verbliebenen grauen Zellen auch anstrenge: Letztendlich lande ich immer wieder bei Covid.

Genau in diesem Punkt liegt der sprichwörtliche Hund begraben. Die Welt dreht sich auch abseits von Corona weiter. Konflikte, Krisen und Klimawandel haben sich nicht in Luft aufgelöst, werden aber vom alles dominierenden Thema überschattet. Auch zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie beherrscht das Virus immer noch den öffentlichen Diskurs, während abseits des Scheinwerferlichts fast 45 Millionen Menschen kurz vor einer Hungersnot stehen.

Auch sollte die Menschheit trotz aller Bemühungen, ein außer Kontrolle geratenes Virus zu besiegen, die eigentliche Herausforderung dieser Generation nicht vergessen: den Klimawandel. Bislang haben die Pandemie und ihre Folgen dazu geführt, dass der CO2-Ausstoß weltweit um fast neun Prozent verringert wurde. Das Weltklima kann demnach etwas aufatmen. Doch wie lange? Gleichzeitig lernt die Menschheit, was wirklich wichtig ist. Sparen beispielsweise. Oder die Vorratshaltung und ein funktionierendes Gesundheits- und Rettungssystem.

Viele Menschen werden sich jetzt erst ihrer Verletzlichkeit so richtig bewusst. Plötzlich werden Dinge geschätzt, die in Zeiten grenzenlosen Wohlstandes als selbstverständlich erachtet wurden. Positive Folgen einer doch recht dunklen Zeit, die manchen Zeitgenossen arg aufs Gemüt schlägt und viele Mitbürger an den Rand ihrer finanziellen und gesundheitlichen Existenz führt. Die sanitäre Krise könnte demnach eine Katharsis für die moderne Gesellschaft werden. Sie hat – wenn auch nur in Ansätzen – eine Art reinigende Funktion, die den Blick fürs Wesentliche schärfen könnte.

Ob diese Erkenntnis jedoch von Dauer ist, wird sich erst in den kommenden Monaten, gar Jahren zeigen. Experten zufolge ist es noch zu früh, um die Folgen der Pandemie fürs Weltklima oder den Zustand der Gesellschaft konkret abzuschätzen. Der Schuss kann nämlich auch nach hinten losgehen. Nach Homeoffice und „Vakanz doheem“ sehnen sich die Menschen womöglich stärker nach Palmen, Meeresblick und Sonnenbad als zuvor. Auf die Einschränkungen folgen vielleicht Kaufrausch und maßloser Hedonismus. Nach den Entbehrungen der letzten zwei Jahre klingt eine Rückkehr in die alte Normalität recht verlockend.

Gut möglich, dass Bürger ein größeres Verständnis für die gesellschaftliche Rolle von staatlichen Instanzen und privaten Unternehmen entwickeln – und dafür, wie wichtig der Zusammenhalt ist. Vielleicht ist aber auch genau das Gegenteil der Fall. Existenzielle Sorgen, der Druck der Pandemie und die Einschränkungen haben zu einem deutlichen Anstieg der verbalen und tätlichen Gewalt geführt – im Haushalt, in der Öffentlichkeit, im Netz. Immer mehr Menschen geben ihre Zurückhaltung auf, Diskussionen drohen innerhalb von Sekunden zu entgleiten. Vorwürfe, Lügen, Beleidigungen, gar Drohungen sind beim Thema Covid inzwischen die Norm.

Nun können wir noch so viel spekulieren. Die Wahrheit ist, frei nach Mike Tyson: Jeder hat einen Plan, bis er eins auf die Fresse bekommt. Groß waren die Hoffnungen vor genau einem Jahr, dass das Jahr 2021 die Wende bringt. Genau diesen Optimismus wünsche ich unseren Lesern für 2022. Dazu eine gehörige Portion Vorsicht, Glück und – in diesen Zeiten besonders wichtig – Geduld und eine gute Gesundheit.