Die Fotos und Videos, die heute genau ein Jahr alt sind, sprachen Bände. Kurz vor dem Beginn der Sommersaison war im Müllerthal nichts mehr, wie es war: Straßen und Keller überflutet, Wohnwagen weggeschwemmt, Menschen ratlos vor ihrem durchweichten Hab und Gut. Ein Jahr später sind die Spuren immer noch zu sehen.
Lesen Sie zu diesem Thema auch den Kommentar von Wiebke Trapp
Die Nacht vom 30. Mai auf den 1. Juni 2018 krempelt das Leben von Rita (59) und Philippe Stoque (59) komplett um. Sie wollen sich zur Ruhe setzen, die Kredite für die letzten Renovierungen des Hotels „Cigalon“ sind abbezahlt, ein interessierter Käufer hatte sich für den nächsten Tag angekündigt. Da kommt nachts um Viertel nach eins die Welle.
Kasselbach und Waldbilliger Bach sind durch den Starkregen der vergangenen Stunden derart angeschwollen, dass die angestammten Bachbecken nicht mehr ausreichen. „Das war wie ein Tsunami“, sagt Rita Stoque. Ihr Mann Philippe kann in dieser Nacht nicht schlafen und steht auf dem Balkon im ersten Stock, als die Schlamm-, Geröll- und Wassermassen auf das Hotel zurollen. Entwurzelte Bäume schlagen Fensterscheiben ein, die Fluten suchen sich einen Weg. Eine Mitarbeiterin der Spülküche, die im Erdgeschoss schläft, rettet sich auf einen Baum. Zwei Kollegen können sich rechtzeitig in Sicherheit bringen, bevor die Welle nach dem Keller das Erdgeschoss mit Restaurant, Küche, Rezeption und Kamin überschwemmt. Keine der Küchenmaschinen überlebt, das Wasser steigt auf über einen Meter Höhe. „Das Hotel gibt es schon über hundert Jahre an dieser Stelle“, sagt Stoque, „aber eine Überflutung wie diese, habe ich noch nie erlebt.“
Zum Zeitpunkt des Unglücks betreibt das Paar das „Cigalon“ mit seinen elf Zimmern und den zwei Suiten fast auf den Tag genau 25 Jahre. Rita und Philippe sind gelernte Köche, sie schließt ihre Ausbildung damals als Jahrgangsbeste in Luxemburg ab. Saisonweise hilft sie im elterlichen Hotelbetrieb und arbeitet im Ausland. In der Provence lernt sie ihren Mann kennen, der Name „Cigalon“ erinnert an diese Zeit. Ihre Eltern haben das Haus am 1. Juni 1956 noch als „Grand Hôtel Central“ gekauft. 1982 steigen Rita und ihr Mann in den elterlichen Betrieb ein. Ein Jahr nach der Katastrophe steht die Tochter immer noch in einer Baustelle. Handwerker gehen ein und aus, eine ehrenamtliche Architektin berät, wie das Erdgeschoss neu gestaltet werden kann. Auf dem Gang im Obergeschoss, von wo die Türen in die Gästezimmer abgehen, steht „Strandgut“ wahllos durcheinander. Alles, was vor den Fluten gerettet werden konnte. Nach einer baldigen Wiedereröffnung sieht es nicht aus. Schon die zweite Saison geht verloren.
„Jetzt machen wir noch ein bisschen weiter“
Die Stoques leben von Arbeitslosenhilfe. Zwar hat der Staat ihnen bisher mit 175.000 Euro unter die Armen gegriffen, an ein geregeltes Einkommen ist aber unter diesen Umständen nicht zu denken. Genauso wenig lässt sich momentan sagen, wann sie wieder öffnen. „Keine Ahnung“, sagt Stoque. Avisiert ist der Valentinstag 2020 – von Ruhestand keine Spur. Sie und ihr Mann werden nächstes Jahr 60 Jahre alt, Jahrzehnte in der Gastronomie liegen hinter ihnen. „Jetzt machen wir noch ein bisschen weiter“, sagt Rita, „wahrscheinlich noch fünf Jahre. Mal sehen.“
So bitter, wie es zunächst klingt, ist es nicht. Die Stoques haben gelernt, um ihren Betrieb zu kämpfen. Das hat ihnen die Welle der Solidarität gezeigt, die das Paar nach dem Unglück erreicht. Über hundert Freiwillige aus allen Teilen des Landes reisen im größten Chaos an und helfen bei den Aufräumarbeiten. Die beiden Hoteliers nehmen die Bargeldeinnahmen der letzten Gäste, um die Freiwilligen mit Sandwiches und Getränken zu versorgen. „Die Kasse war ja auch kaputt“, sagt Stoque.
Das mediale Interesse ist groß. Die Helfer bleiben bis zuletzt und kommen selbst wieder, als nach der ersten Verwüstung neun Tage später ein zweites Hochwasser den Keller wieder unter Wasser setzt. Manche kommen bis heute. Das „Cigalon“ hat für viele einen ideellen Wert. Gästen ist es ein zweites Zuhause. Sie kommen teilweise schon sehr lange ins Müllerthal und teilen gerne mit den Gastgebern die Atmosphäre in dem familiär geführten Haus. „Allein schon wegen ihnen muss es hier weitergehen“, sagt Stoque, „und wer uns bis dahin nicht kannte, der will uns jetzt kennenlernen.“
Katastrophe bleibt unvergessen
Stefan Spaus ist schon viel weiter. Sein Campingplatz „Cascades“ mit den 100 Stellplätzen, davon 30 Dauercamper, läuft wieder. Nur wer genau hinschaut, findet noch Anzeichen des Hochwassers von einem Jahr zuvor. Ein fehlendes Geländer über den Waldbilliger Bach, eine zerborstene Ecke des Schuppens, wo Spaus sein Holz lagert, oder eine mangelhafte Beschilderung der Wanderwege. Trotzdem ist das marginal im Vergleich zur Verwüstung zwölf Monate zuvor. Die Soforthilfe der Regierung in Höhe von 150.000 Euro hilft, trotzdem muss die Familie Spaus eine Grundsatzentscheidung treffen.
Stefan Spaus hängt an dem Platz. Sein Opa fängt 1957 damit an, Wanderer auf dem Gelände übernachten zu lassen. Seine Mutter übergibt später an ihn. 2017 feiern sie das Jubiläum groß. Spaus gibt seinen Job als Mechaniker beim Automobilclub auf. Er will sich ganz dem Tourismus widmen. Dann kommt das Wasser und macht alles zunichte.
Danach ist allen klar, ein eventueller Neustart ist ein Neuanfang. Stefan sucht sich zur Überbrückung einen Job. „Wir haben wirklich lange überlegt, ob wir weitermachen oder nicht“, sagt er. Mit toten und Verletzten wäre das Ehepaar Spaus nicht klargekommen.
Dass es keine gab, beeinflusst die Entscheidung, wieder zu eröffnen. 600.000 Euro investiert die Familie schließlich in den Campingplatz. Es hat sich gelohnt. Die Gäste sind wieder da. Über den bisherigen Verlauf der Saison im „Year after“ will Spaus nicht klagen. Vergessen hat er die Katastrophe bis heute nicht. „Die Schreie von den Gästen“, sagt er, „das bleibt im Kopf.“ Ein rundes Dutzend hat er damals aus den Fluten gerettet.
Rettung auf einer Baggerschaufel
Einer, der in dieser Nacht mit Frau und Hund auf die Schaufel von Spaus’ Bagger klettert, ist Adrie Reedik. Der 73-jährige Niederländer aus einer Ortschaft zwischen Rotterdam und Dordrecht kommt seit mehr als 30 Jahren ins Müllerthal. Auch jetzt. Der pensionierte Zimmermann bringt gerade Planken vor dem Vorzelt an. „Meine Frau hat damals das Wasser zuerst gesehen“, sagt er, „sie sagte, wir müssen raus hier, sofort.“
Das haben sie gemacht und sehen Autos und Wohnwagen an sich vorbeischwimmen. Er weckt die Nachbarn, bevor sie selbst versuchen, sich in stockdunkler Nacht in Sicherheit zu bringen. Die Elektrizität ist komplett ausgefallen, Licht gibt es keins. Weit kommen sie nicht. Nur wenige Meter von ihrem Wohnwagen samt Vorzelt stecken sie selbst in Sand- und Schlammmassen fest. Bis der Bagger kommt. Trotzdem: Unwetter hin oder her, sie bleiben dem Müllerthal treu. „Natur, Ruhe, Luft“, heißt die Werbung für ihre alte und neue Lieblingsdestination.
Die Wanderwege sind zum großen Teil repariert
Nach Angaben des ORT Müllerthal waren von dem Unwetter 2018 ein Drittel der Wanderwege im Müllerthal betroffen. Insgesamt wurden über 100 Wanderbrücken aus Holz beschädigt oder weggeschwommen, 45 Wege waren komplett unpassierbar aufgrund von Hangrutschungen oder umgefallenen Bäumen. Etliche Wege waren nur durch Umleitungen begehbar. Heute, ein Jahr später, sind 125 Wanderwege geöffnet, 14 Wege haben eine Umleitung auf der Strecke und vier Wanderwege sind noch unpassierbar. Das ist laut ORT der Stand zum 28. Mai 2019.
Größere Infrastrukturarbeiten bleiben im Bereich des Schiessentümpels und örtliche Umleitungen im Bereich des Ruetsbach, Aesbach und „Priedegtstull“ in Berdorf. Das ORT geht davon aus, dass diese vor dem Kollektivurlaub erledigt bzw. beseitigt werden können. Im unteren Bereich des Aesbach im Echternacher Gebiet ist der lokale Wanderweg E4 derzeit noch gesperrt. Diese Arbeiten hängen eng mit den Arbeiten an der Straße Echternach-Berdorf zusammen. Somit stünde zeitgleich mit der Eröffnung der Straßenverbindung Berdorf-Befort (Ende Juli) und Berdorf-Echternach (3. Juni) der Sommersaison 2019 nichts mehr im Wege. Einzig der Bereich beim Halsbaach / Zigeinerlee in Berdorf (Circuit auto-pédestre Berdorf) sowie die Straße nach Haler müssen bis nach den Sommerferien warten. Wegen der fehlenden Verkehrsbrücke am CR128 in Haler sind auch die lokalen Wanderwege B7 und W4 derzeit noch gesperrt.
Kurz nach dem Hochwasser hatte die luxemburgische Regierung 30 Millionen Euro Soforthilfe zugesagt. Nach Angaben des „Haut commisariat à la protection nationale“ sind davon 24 Millionen Euro in Infrastrukturmaßnahmen geflossen und fließen noch, da verschiedene Arbeiten noch nicht abgeschlossen sind. Das betrifft Straßen, Wanderwege, Mauern, Brücken oder Bachläufe, die beschädigt waren.
Starkregen und die Ursachen: Das sagt der Klimaexperte
Wie kommt es zu diesen starken Regenfällen? Und: Wird es das noch öfter geben? Das sind Fragen, die sich viele nach dem Unglück gestellt haben und sich noch immer stellen. Andrew Ferrone, Direktor des meteorologischen Dienstes der „Administration des services techniques de l’agriculture“ (ASTA) und Vertreter Luxemburgs auf den internationalen Klimakonferenzen, erklärt das Phänomen.
Aus den über hundertjährigen Beobachtungen der ASTA geht hervor, dass seit den 1950er Jahren in Luxemburg ein Anstieg der Tage mit Starkniederschlägen zu beobachten ist. Während es zwischen 1951 und 1980 im Durchschnitt 15 Tage mit täglichen Niederschlagsmengen über 12 l/m2 gab, so stieg deren Anzahl zwischen 1981 und 2010 auf 18 Tage an. Dieser Trend ist allerdings nicht nur in Luxemburg zu beobachten, sondern, mit Ausnahme der Tropen, in allen Klimaregionen der Erde. Der Grund: Durch den Anstieg der Konzentrationen von Treibhausgasen erwärmen sich die Ozeane weltweit. Dies führt zu einer starken Verdunstung von Wasserdampf und somit zu einer Zunahme der Feuchtigkeit in der Atmosphäre. Die globalen atmosphärischen Strömungen führen diese feuchten Luftmassen über die Kontinente, wo sich der Wassergehalt in Form von Regen und Starkregen entlädt.
Es wird erwartet, dass sich dieser Trend zu mehr Tagen mit Starkniederschlägen, mindestens über die nächsten 30 Jahre fortsetzen wird. Der Weltklimarat stellt seit über 20 Jahren einen klaren Zusammenhang zwischen dem vom Menschen verursachten Klimawandel und dem Anstieg der Starkniederschläge in seinen Berichten fest. Eine Reduzierung dieser Tendenz um die 2050er Jahre wird nur möglich sein, wenn die globalen Emissionen von Treibhausgasen in den nächsten zehn Jahren halbiert werden und bis 2050 die Klimaneutralität erreicht wird.
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