Luxemburg hat ein Rassismusproblem. Dies ist nicht erst seit der Studie „Le racisme et les discriminations ethno-raciales au Luxembourg“, die im März vorgestellt wurde (das Tageblatt berichtete), bekannt. Diese hat ergeben, dass Stereotypen nach wie vor in den Köpfen der Menschen verankert sind. Bestimmte Bevölkerungsgruppen werden eher für die Steigerung von Gewalt und Kriminalität verantwortlich gemacht oder gelten als fauler als andere. Rassismus ist eine Erfindung, die wirtschaftlichen Interessen dient. Er beginnt nicht erst bei physischen Angriffen auf bestimmte Personen, sondern kann sich bereits in Mikroaggressionen im Alltag ausdrücken. Verstärkt werden können diese Stereotypen in Medien wie Film, Musik und Literatur. „Wir haben den Namen ‚Visible‘ für dieses Projekt gewählt, weil wir der Frage nachgehen möchten, wer in der Literatur dargestellt wird“, erklärte Antonia Ganeto. „Gleichzeitig ist es wichtig, denen eine Stimme zu geben, die nicht oder nur schlecht repräsentiert werden.“
Celestina Vindes Jorge, eine der Rednerinnen am Samstag, stellte gleich zu Beginn klar, dass es insgesamt einen Mangel an Diversität in der Literatur gibt. Sie selbst sei mit Werken von weißen Autoren aufgewachsen, mit denen sie sich durchaus identifizieren konnte. Doch zugleich wurde darin eine Welt dargestellt, von der sie selbst, als Person afrikanischer Herkunft, ausgeschlossen ist. „Ich fordere nicht, dass mein Sohn ausschließlich mit Büchern über dunkelhäutige Menschen aufwächst, sondern unter anderem“, sagte die Philosophin, Lehrerin und Gründerin der Buchhandlung „Pépite Blues“ in Brüssel. Letztere wurde ins Leben gerufen, um die Vielfalt der afrikanischen und afro-karibischen Literatur zu zeigen.
Dr. Elodie Malanda, die sich in ihren Forschungsarbeiten unter anderem mit dem Afrikadiskurs in der Kinder- und Jugendliteratur befasst, merkte an, dass Diversität zahlreiche Bereiche betrifft: ethnische Herkunft, aber auch sexuelle Orientierung, Gender oder ökonomische Aspekte. Sie solle nicht als Pendant zu einer „weißen Norm“ angesehen werden. „Als Kind bin ich vorwiegend auf Bücher gestoßen, in denen es um Mädchen ging, die in einem afrikanischen Dorf in Armut aufwachsen. Auch wenn ich diese Werke sehr interessant fand, handelte es sich dabei um eine Realität, in der ich mich als Person, die in Europa aufgewachsen ist, nicht identifizieren konnte“, erklärte die Forscherin. „Ich habe festgestellt, dass es in der Literatur einen Mangel an afrikanisch-stämmigen Charakteren gibt, die in Europa aufgewachsen sind. Wenn dies der Fall war, dann nur in der Nebenrolle eines Opfers von Rassismus, das zum Beispiel von einem weißen Klassenkameraden gerettet wird.“ Schwarze Menschen seien in der Literatur in unseren Breitenkreisen entweder in einer Opferrolle oder arm. Selten nehmen sie die Rolle des Helden ein. Dieses Hierarchieverhältnis gelte es zu hinterfragen.
Stereotypen dekonstruieren
Eine Studie der Universität Luxemburg hat ergeben, dass Diversität in den hiesigen Schulbüchern nach wie vor Mangelware ist oder nur eindimensional repräsentiert wird. Ganeto wies auf ein Kapitel im Französischunterricht der Grundschule hin, das sich mit Burkina Faso befasst. „Masken und Armut – das ist sozusagen das einzige Bild vom afrikanischen Kontinent, das einem Kind in der Grundschule in Luxemburg vermittelt wird.“
Malanda wies darauf hin, dass Wörter und Kategorien Konstruktionen sind und sich in einem ständigen Wandel befinden. Vor allem in Deutschland, wo die Forscherin lebt, gebe es seit einigen Jahren eine Tendenz, Wörter aus dem US-amerikanischen Sprachgebrauch zu übernehmen und auf die hiesigen Begebenheiten zu übertragen. Eine Tendenz, die mit Vorsicht zu genießen sei: „Wir müssen darauf aufpassen, dass wir nicht versuchen, die Realität in unserem Umkreis zu ignorieren“, sagte Malanda. In den USA werde beispielsweise die Bezeichnung BIPOC („Black, Indigenous and People of Color“) benutzt. Eine Übersetzung des Wortes „Indigenous“ sei im Deutschen schwierig. Auch seien Verhältnisse nicht eins zu eins übertragbar. „Menschen nordafrikanischer Herkunft beispielsweise gelten in den Vereinigten Staaten als ‚Caucasian‘.“ Auch der in Luxemburg verwendete Begriff „afrodescendant(e)s“ müsse reflektiert werden. Wie sähe es mit weißen Menschen aus, die in Afrika leben?
Dürfen denn beispielsweise nicht-schwarze Autoren über Schwarze schreiben? Klar, dürfen sie, so der Tenor bei der Diskussionsrunde. Es sei begrüßenswert, ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Gleichzeitig seien viele Literaturwerke über Schwarze, die von weißen Autoren verfasst werden, nicht unproblematisch. Aktuell gebe es eine Tendenz, Charaktere aus unterschiedlichen Kulturkreisen einzuführen, die jedoch über keine kulturellen Marker verfügen. Zugleich solle „Diversity“ nicht lediglich als Modewort verwendet werden. „Manchmal gibt es auch Druck vom Herausgeber, möglichst viel Diversität in ein Werk zu packen“, bemerkte Malanda. Dies sei jedoch nichts anderes als „blackfacing“.
Die bisherigen Bemühungen seien ein erster Schritt, doch es gibt noch viel Arbeit in diesem Bereich. Darin waren sich die Anwesenden einig. Celestina Jorge Vindes brachte es auf den Punkt: „Jeder darf über alles schreiben, aber nicht anstelle von jemandem reden. Man muss den eigenen Standpunkt reflektieren und sich die Frage stellen: Nehme ich hier nicht Raum ein, der jemand anderem zusteht? Bin ich nicht gerade dabei, andere Stimmen zum Schweigen zu bringen?“
Zur Sprache kam anschließend die Frage, was als Literatur gilt und was nicht. Beim Hinweis darauf, dass viele große literarische Preise von afrikanischstämmigen Autoren gewonnen wurden, meinten beide Rednerinnen, dies sei natürlich begrüßenswert, doch gleichzeitig dürfe man nicht vergessen, dass Werke, die mit Preisen ausgezeichnet wurden, nicht unbedingt wertvoller seien als andere. „Wichtig ist, dass die Menschen Zugang zu unterschiedlichen Kanons haben“, sagte Jorge Vindes, woraufhin Malanda noch die Unterscheidung zwischen „hoher“ und „niedriger“ Literatur hinterfragte. „Literatur ist nicht unbedingt niedergeschrieben. Auch Erzählungen sind Literatur.“
Das Thema Darstellung von Diversität stößt in Luxemburg auf immer mehr Interesse. Der Ally Book Club, der Bücher zur Verfügung stellt, in denen über Diskriminierung aufgeklärt wird, war dieses Jahr unter anderem bei den „Walfer Bicherdeeg“ vertreten. „Wir wurden von luxemburgischen Autoren angesprochen, die uns gefragt haben, wie sie das Thema angehen sollen“, berichtete Sabrina Castelló gegenüber dem Tageblatt. „Auch die Formationen, die wir angeboten haben, waren in kurzer Zeit ausgebucht.“
Die Plätze für die Veranstaltung am Samstag waren alle vergeben. Rund 30 Personen fanden sich im „Gingko“ ein. Viele junge Frauen. Wenige weiße Männer. Gleichzeitig wurde die Diskussionsrunde live auf Facebook gestreamt. Im Nebenraum waren der Ally Book Club und „Pépite Blues“ mit Bücherständen vertreten. Die von „Pépite Blues“ ausgestellten Werke konnten auch erworben werden – ein Angebot, das viele der Anwesenden annahmen. Es gab Comics für Kinder, aber auch afro-feministische Literatur oder Werke über ethnische Stereotypen. Im Herbst ist eine weitere Veranstaltung vorgesehen.
Das Projekt „Visible“
Ziel des Projektes „Visible“, das im Rahmen des Nationalen Aktionsplans für Integration ins Leben gerufen wurde, ist die Bekämpfung von Diskriminierungen jeder Art in Luxemburg. Es wird in Zusammenarbeit mit den Vereinigungen Finkapé und Ally Book Club geleitet und von der Integrationsabteilung im Familienministerium unterstützt.
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