Xavier Bettel hat am Freitagabend in Belval mit Bürgern über die Europäische Union diskutiert. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte die Initiative angeregt. Es ging um Loch Ness und Kinderschuhe, Jean Monnet und Krieg.
Über Europa zu reden, ist prinzipiell nie falsch. Vor allem wenn es darum geht, nicht nur auf das Staatenbündnis zu schimpfen. Das ist ja ein gewisser Volkssport. Aber auch ein Kniff, dessen sich nationale Politiker gerne bedienen, um über ihr eigenes Unvermögen hinwegzutäuschen. Ein Phänomen, das auch Luxemburg nicht erspart bleibt. Man nehme bloß die jüngste Diskussion über das Düdelinger ArcelorMittal-Werk.
Einer, der gerne über Europa redet, und der gar seine Wahlen auf diesem Weg gewinnen konnte, ist der französische Präsident Emmanuel Macron. So war es auch Macron, der im Dezember im Europäischen Rat den anderen EU-Staats- und –Regierungschefs Folgendes mit auf den Weg gab: Gehet hinaus, liebe Kollegen, und treffet die Menschen und redet mit ihnen über Europa. Ich werde es tun. Tut es mir nach.
Am Dienstag führte Macron seine ersten Bürgergespräche. Der Startschuss war gegeben. Und Luxemburg ließ sich nicht lumpen: Für Freitagabend hatte Premierminister Xavier Bettel zu den ersten luxemburgischen Consultations citoyennes geladen.
Mehr Nähe tut not – nach dürftig genutzter Europawahl
Macrons Idee ist, dass er und seine europäischen Kollegen Europa den Bürgern wieder näher bringen, diese Ideen einbringen können, die dann wiederum Eingang finden in die Gestaltung der EU-Politik. Das Ziel dürfte klar sein. Kommendes Jahr sind Europawahlen. Und wenn man sich die Wahlbeteiligung aus dem Jahr 2014 in Erinnerung ruft, sollte es offensichtlich sein, dass eine solche Initiative erst einmal angebracht ist.
In der Slowakei und in Tschechien gingen damals jeweils weniger als 20 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen. Nur in acht der 28 Mitgliedsstaaten lag die Beteiligung bei mehr als 50 Prozent. Da tut eine Annäherung not. So beteiligen sich bis auf zwei Staaten auch alle an Macrons EU-Mitmachmarathon. Nur das Vereinigte Königreich, aus verständlichen Gründen, und Österreich, weshalb auch immer, sind nicht dabei.
Die Sonne als Konkurrenz
Macron startete in Epinal und damit in einer Region, der die Industrie den Rücken gekehrt hat und wo der Front national in den Trümmern der Verzweiflung leichtfüßig Stimmen plündert. Bettel wählte Esch. Für Luxemburg etwas ungewohnte Konkurrenz zur Veranstaltung kam wenn auch nicht von ganz oben, so doch von oben. Freitagabend, Wochenendbeginn – und dann locker 25 Grad und Sonnenschein. Wer da die Woche über seinen Grill auf Vordermann gebracht hatte, war wohl nur mehr schwer zu einer Diskussionsrunde zu bewegen, die klären sollte, was einem Europa bedeutet.
Daumen hoch, Daumen runter: Die Teilnehmer konnten ihre Meinung auch mit Schaumstoffschildern kundtun (Foto: Julien Garroy)
Trotzdem hatten sich gut und gerne 50 Interessierte eingefunden. Zum Verhältnis: Bei Macron waren es 300, vor allem Mitglieder von En Marche. 50 in Belval, und die bunt gemischt – das kann sich also durchaus noch sehen lassen. Der Ort der Austragung war nicht zufällig gewählt. Belval, das Gelände, auf dem früher Eisenerz geschmolzen und heute vor allem Hirnschmalz gefördert wird, ist einer der Gründungorte der Europäischen Union. Im April 1953 machte Jean Monnet genau hier in der Belvaler Hütte den ersten europäischen Hochofen-Abstich. Ein hochsymbolischer Akt. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl war im Jahr zuvor gegründet worden. Mittlerweile ist daraus die Europäische Union geworden. Wer aus Esch nach Belval fährt, der muss erst einmal Luxemburg verlassen, rund 200 Meter durch Frankreich fahren, um dann wieder in Luxemburg zu sein. Europa, Grenzkontrollen – war da was?
Sonst dozieren sie an der Uni.lu, am Freitag erklärten sie die EU: Tomasz Kramer und Igor Dizdarevic (Foto: Julien Garroy)
Die Veranstaltung geriet dann durchaus interessant, wenngleich etwas hölzern. Zur Verstärkung hatte sich Bettel zwei junge Spezialisten vom Institut européen de l’Administration publique (EIPA) auf die Bühne geholt. Thomasz Kramer und Igor Dizdarevic sind beide Europarechtler und, wie einer der beiden hervorhob, quasi Posterboys der Europäischen Integration. Der eine aus Polen, der andere aus Frankreich, beide perfekt mehrsprachig und in Luxemburg arbeitend. Sie erklärten den Zuhörern die Funktionsweise der EU. Diese konnten mit kleinen Schildern (Daumen hoch oder Daumen runter) ihre Zustimmung oder Ablehnung zu den Ideen kundtun. Moderierend durch den Abend führte RTL-Journalistin Nathalie Reuter.
Mit fettem Aber
Bettel gab den Pro-Europäer mit fettem Aber. Im Gegensatz zu Macron heißt seine nächste Prüfung aber auch, Nationalwahlen zu bestehen und eben nicht – in der Ferne – Europawahlen. Im Gegensatz zu Macron kämpft er auch nicht gegen eine Anti-Europa-Front, wie sie Marine Le Pen und ihr Front national darstellten, sondern sozusagen unter seinesgleichen. Im Wahljahr sind in Luxemburg alle Pro-Europäer mit fettem Aber. Level Playing Field quoi.
Bettel verteidigte im Laufe der knapp zweistündigen Runde seine Positionen zur Europäischen Union. Luxemburgs Premier ist für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten („Ech sinn do ganz krass“), da Europa sonst stehen bleibe und nicht vorankomme. Wenn die einen aus nationalen Gründen Flugangst hätten, könnten sie ja mit dem Zug nachreisen. Er ist für transnationale Listen bei den Europawahlen, auf denen auch die Spitzenkandidaten stehen sollten, das aber erst bei den übernächsten Wahlen im Jahr 2024.
Nessie, das Steuermonster
Was die Bestrebungen zur Steuerharmonisierung angeht, fragt sich Bettel, wieso die Steuern immer nach oben hin angepasst werden sollen. Luxemburg würde in einem solchen Fall dann nicht mehr den reduzierten Mehrwertsteuerbetrag etwa auf Kinderschuhen aufrecht halten können (wobei angemerkt werden sollte, dass Steuersätze auf Kinderschuhen nicht wirklich im Zentrum der Gespräche zur europäischen Steuerharmonisierung stehen). Eine Finanztransaktionssteuer auf europäischer Ebene lehnt Bettel weiter ab. Er verglich sie mit dem schottischen Seemonster Loch Ness. Jeder spreche drüber, „aber keiner hat sie bislang gesehen“. Das mache nur Sinn, wenn sie global eingeführt werde. Andernfalls befürchtet Bettel einen gravierenden Konkurrenznachteil für die EU und im Besonderen für Luxemburg, das die zweitgrößte Investmentfondsindustrie der Welt beheimatet.
Die Zuhörer waren interessiert am Gespräch und machten mit. Stramme Anti-Europäer waren nicht zugegen oder meldeten sich nicht zu Wort. Die kritischsten Wortmeldungen tendierten dahingehend, dass die EU klar etwas Gutes sei, man aber noch lange nicht am Ziel sei und auch nicht so tun sollte als ob.
Gefährlicher Humbug und die Yugo-Kriege
Wie fast immer, wenn die Europäische Union verteidigt wird, ging es auch am Freitag auf Belval um das Friedensprojekt, das die EU war und ist. Einigen ist das Argument, dass das Zusammenwachsen der europäischen Staaten Jahrzehnte des Friedens gesichert hat, ja mittlerweile zu abgelutscht, da zu oft strapaziert. Was aber ein fast schon gefährlicher Humbug ist.
Darauf wies auch Uni-Dozent Igor Dizdarevic hin. Er, dessen Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, hat den Krieg noch erlebt. „Auch wenn es kein Weltkrieg war“, sagte Dizdarevic, „so war das doch ein richtiger Krieg – und das in Europa, gleich am Rande der Europäischen Union“. Und wer die Geschichte Europas kennt, der weiß, dass Jahrzehnte des Friedens in diesem Raum historisch gesehen vor allem eines sind: wirklich krass.
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