Sport, Freizeit, Kultur oder Shopping, in der Großregion Saar-Lor-Lux sind nationale Grenzen kein Hindernis mehr. Hier steht die Wiege der uneingeschränkten Reisefreiheit innerhalb der EU. Wie sich die territoriale Einheit seit ihrem Bestehen entwickelt hat und wo die Reise hingeht, dazu hat Estelle Evrard (35) ein Buch vorgelegt. Als Wissenschaftlerin mit einem Masterabschluss in Jura forscht sie an der Uni.lu zu Themen der politischen Geografie.
Tageblatt: Was ist für Sie die Großregion?
Estelle Evrard: Fünf Regionen, drei Nationen und drei Sprachen. Es ist ein politisches Konstrukt, aber auch ein zwischenstaatliches Territorium und gelebte Wirklichkeit.
Warum ist dieses Gebiet so interessant für Sie?
Wegen dieser Komplexität. Zudem liegt das Gebiet zwischen den beiden anderen Hauptstädten Europas, Brüssel und Straßburg. Und die Ströme der Menschen, die sich in der Großregion von einem zum anderen Land bewegen, sind in Europa einzigartig.
Die Großregion wird oft als «Labor europäischer Integration» bezeichnet. In
einigen EU-Mitgliedstaaten sind die EU-Gegner auf dem Vormarsch. Kann sie das vor diesem Hintergrund sein?
In einem Labor wird experimentiert. In der Großregion wird experimentiert, in der EU wird ebenfalls experimentiert – nicht in allen, aber in einigen Bereichen.
Ist die Großregion nicht institutionell viel zu «lose» organisiert, um politisch
eine Rolle zu spielen? Damit beschäftigt sich ja auch Ihre Dissertation.
Ich gehe darin der Frage nach, ob die Großregion ein Netzwerk verschiedener Akteure sein und bleiben will oder ob sie sich nicht in Richtung Akteure einer gemeinsamen, staatenübergreifenden Politik entwickeln will. Und ob sie das nicht schon tut.
Brauchen wir das überhaupt?
Ja. Die Menschen, die in diesem Gebiet leben, leben die Großregion schon. Ich denke an Arbeiten, Wohnen, Studium, Shoppen, Kultur und Sport, da spielen die Grenzen keine Rolle mehr. Diese Bewegungen über die Grenzen insbesondere im öffentlichem Transport werfen allerdings auch Probleme auf, weil der Austausch immer intensiver wird. Um diese Probleme zu lösen, brauchen wir ein politisches Konstrukt.
Welche Probleme meinen Sie?
Transport zum Beispiel. Die Schienen- und Straßennetze waren zuerst für das nationale Aufkommen zugeschnitten. Jetzt sind die Bewegungen grenzüberschreitend. Das heißt, sie sind nicht mehr adäquat. Bürger wundern sich über nationale Preisunterschiede im Bahnverkehr oder warum das gekaufte Ticket hinter der Grenze nicht mehr gilt, obwohl sie so nah ist. Diese Fragen können nur politisch gelöst werden. Dafür braucht es einen Rahmen, ich nenne ihn in meinem Buch Konstrukt.
Lothringen ist im Zuge der Gemeindereform in Frankreich zu «Grand Est» geworden. Das Elsass gehört also streng genommen auch zur Großregion. Schon davor wurde immer wieder über einen neuen Name für die Großregion diskutiert. Wie steht es darum?
Das Elsass ist selbst Grenzregion zu Deutschland und von daher eher Richtung Baden-Württemberg (D) oder Basel (CH) orientiert. Zum Namen: Ich glaube, es gibt einen weit verbreiteten Wunsch nach einem anderen Namen, empirisch belegen kann ich das aber nicht. Fest steht auch, der aktuelle Name macht es nicht einfach, sich nach außen zu präsentieren. Es gibt ja noch andere Grenzräume in Europa. Wie allerdings der aktuelle Stand der Diskussion dazu ist, kann ich nicht sagen.
Sind wir auf dem Weg dahin, dass nationale Grenzen irgendwann keine Rolle mehr spielen? Weil wir alle Europäer sind?
Glücklich sei die Person, die das beantworten kann …
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