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„Der Optimismus war nie so groß wie jetzt“

„Der Optimismus war nie so groß wie jetzt“
Die Massenproteste in Armenien verlaufen größtenteils friedlich. Foto: AFP

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Gohar Sharoyan studiert an der Uni.lu und erzählt aus Jerewan.

Ein Generalstreik legt das Leben in Armeniens Hauptstadt Jerewan lahm. Oppositionsführer Paschinjan hatte dazu aufgerufen, nachdem das Parlament ihm die Wahl zum Regierungschef verweigert hat. 200.000 Menschen demonstrieren für ihn. Gohar Sharoyan ist Armenierin und studiert an der Universität Luxemburg. Die 26-Jährige ist aufgrund der Ereignisse in ihrer Heimat kurzfristig nach Jerewan gereist. Hier erzählt sie, was in dem Land im Kaukasus gerade passiert.

Tageblatt: Die Menschen in Armenien gehen nun seit Wochen auf die Straßen. Momente der Hoffnung wechseln sich mit solchen der Enttäuschung ab. Ist der anfängliche Optimismus, der die Proteste trug, noch spürbar?

Gohar Sharoyan: Der Optimismus war nie so groß wie jetzt gerade. Von Verzweifelung kann wirklich nicht die Rede sein. Im Gegenteil, die Menschen hier in Armenien haben sich noch nie so gestärkt gefühlt. Plötzlich sehen sie, dass sie Macht haben. Sie sind motivierter denn je, weiter auf die Straße zu gehen und für ihre Rechte einzustehen.

Vor den Protesten war Paschinjan den meisten Menschen außerhalb Armeniens völlig unbekannt. Wie sah das im Land selber aus? Und trauen Sie dem Mann, der wohl bald das Land leiten wird?

Paschinjan ist bereits seit ein paar Jahren in der Opposition. Seine jetzige Partei ist allerdings noch rech jung. Die Menschen fangen nun an, ihm mehr und mehr zu vertrauen und sich auf ihn zu verlassen. Ich persönlich denke, dass es zum jetzigen Zeitpunkt einfach keine Alternative zu ihm gibt, der man vertrauen könnte. Ich stimme vielleicht nicht mit allem überein, was er sagt – aber die allermeisten seiner Standpunkte teile und die sind auch im Sinne der Menschen hier.

Wie konnte es überhaupt zu diesen Protesten kommen? Was ist schief gelaufen in Armeniens Politik der vergangenen Jahre?

Für mehr als zehn Jahre hat unser Regierungssystem den Menschen nur Elend gebracht, ein Elend, das schwer in Worte zu fassen ist. Die Lebensumstände von fast jedem einzelnen Armenier haben sich in dieser Zeit verschlechtert: die Armut stieg rasant; die Staatsverschuldung erklomm ein historisch hohes Level; die wirtschaftliche Lage des Landes ist miserabel. Diese Gesamtsituation war für viele Armenier einfach nicht mehr zu ertragen. Paschinjan machte dann den ersten, den wichtigsten Schritt. Er gab, indem er voranging, den Menschen sozusagen grünes Licht – diese folgten ihm und erreichten mit der Abdankung des ehemaligen Präsidenten und erst kürzlich gewählten Regierungschefs Serge Sarkasjan Unglaubliches.

Quasi während wir dieses Gespräch führen, gibt es den nächsten Wendepunkt in diesem armenischen Polit-Krimi …

Ja! Eben hat die Republikanische Partei, also die Partei, die das Land so sehr an den Abgrund geführt hat, angekündigt, Paschinjan bei den Wahlen vom 8. Mai zu unterstützen. Im selben Zug haben sie die Menschen aufgefordert, die Demonstrationen zu beenden, da sie ja das bekommen, was sie wollen: nämlich dass Paschinjan Premierminister wird. Einerseits verstehe ich ja, dass das nun die schlüssigste Entscheidung ist, wenn man sich die Situation im Land anschaut. Immerhin zogen die vergangenen Tage ein paar Hunderttausend Menschen durch die Straßen und riefen dabei, dass sie solange nicht aufhören werden, bis diese Revolution ihr Ziel erreicht hat. Andererseits hat diese Partei die Menschen schon so oft enttäuscht, zuletzt am Dienstag, als sie Paschinjan im Parlament die Unterstützung verweigerten, wieso es ja erst zu Neuwahlen kommen musste …

Also so ganz auf der sicheren Seite fühlen Sie sich noch nicht, ist denn zumindest die Gefahr einer gewalttätigen Antwort der Staatsmacht gebannt? Oder besteht weiter das Risiko eines Blutvergießens?

Es sieht jetzt so aus, als hätten die alten Machthaber die Situation, in der sich das Land und damit auch sie sich befinden, nicht nur verstanden, sondern auch akzeptiert. Demnach denke ich nicht, dass die Gefahr eines Blutvergießens noch besteht und die Regierung die Leben von Hunderttausenden Bürgern in Gefahr bringt.