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RusslandDebatten ohne Kandidaten: Warum die Regionalwahlen Scheinwahlen sind

Russland / Debatten ohne Kandidaten: Warum die Regionalwahlen Scheinwahlen sind
Das Volk soll Beifall klatschen, doch letztendlich sind es Scheinwahlen zur Legitimation des Bestehenden Foto: dpa/Hannah Wagner

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Russland lässt bis Sonntag über Gouverneure und Stadtparlamente abstimmen. Die Wahl ohne Wahl gaukelt Normalität mitten im Krieg vor.

„Guten Tag“, grüßt der Moderator im staatlichen russischen Fernsehen „Rossija 1“. „Wahlen 2023“ steht auf dem Bildschirm hinter ihm, es weht die russische Trikolore. „Herzlich willkommen zur Fernsehdebatte“, sagt der Mann mit der Brille und klammert sich an seine Karteikarten, ebenfalls in den Russlandfarben Weiß-Blau-Rot. Doch er steht allein da. Die Kamera schwenkt zu den beiden Pulten, an denen die Kandidaten der Kommunistischen Partei der russischen Föderation und der Pop-Empörungspartei LDPR aus dem Kusbass, dem Steinkohlerevier Russlands in Sibirien, hätten Platz nehmen sollen. Sie aber blieben dem Studio fern. Wie auch andere Kandidaten quer durchs Land ihre Debattiertische einfach Debattiertische haben sein lassen. Debatten sind in Russland ohnehin nicht geduldet. Der Moderator von „Rossija 1“ bricht nach einigen Sekunden seine Sendung ab, es geht weiter im Programm. Das Fernsehen meldet „Erfolge“ an der Front in der Ukraine.

Das leere Studio im Kusbass ist symptomatisch für die russischen Regionalwahlen, die bis Sonntag andauern. Es sind Scheinwahlen, die der Legitimation des Bestehenden dienen. Das Volk soll Beifall klatschen, mit unterschiedlichen Methoden werden die Wahlberechtigten dazu gebracht. Staatsangestellte werden faktisch genötigt, ihre Kreuze bei den „richtigen“ Kandidaten zu machen. Andere lockt man mit allerlei Gewinnen. Allerdings werden – im Gegensatz zum vergangenen Jahr – keine Wohnungen oder Autos mehr verlost, sondern Medikamente, Spielzeug oder Geld. Für manche Menschen im Land ist bereits das viel.

Normalität vorgaukeln

Abgestimmt wird in ganz Russland – und auch in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja. In 20 Regionen stehen Gouverneure zur Wahl, in Moskau soll der Bürgermeister gewählt werden, in 16 Regionen werden Lokalparlamente gewählt und auch vier freigewordene Sitze für die Duma, das Staatsparlament, sollen neu besetzt werden. Es ist eine Wahl mitten im Krieg, sie gaukelt Normalität vor. Eine Normalität, die hohl ist.

Wahlkämpfe, die als Wahlkämpfe zu bezeichnen wären, gibt es nicht mehr. Viele oppositionelle Kandidaten, die es bei der Wahl im vergangenen Jahr noch gegeben hatte, haben das Land längst verlassen. Auch wenn Oppositionelle aus dem Ausland versuchen, die in Russland gebliebenen Russinnen und Russen dazu zu motivieren, zur Wahl zu gehen, weil nur durch Wahlen das Land zu verändern sei, so verhallen ihre Aufrufe meist. Die Menschen sind müde, sind müde gemacht worden von einem System, das politische Beteiligung mit rigorosen Gesetzen getilgt hat, viele sehen keinen Sinn darin, sich an der Abstimmungsfarce zu beteiligen.

In Moskau finden sich entlang der Straßen mehr Plakate mit der Werbung, an der Front zu dienen, als Konterfeis von Bürgermeisterkandidaten. Viele Menschen wissen gar nicht, wer die Gegner des langjährigen und durchaus erfolgreichen Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin sind. Der 65-Jährige lässt die Stadt hübsch gestalten, lässt immer weitere Metro-Stationen einrichten, Krankenhäuser bauen und die Verwaltung digitalisieren. Zum Krieg äußert er sich nie. Manche Moskauer wissen nicht einmal, dass Wahl ist. „Ich gehe seit Jahren nicht abstimmen, warum sollte ich das jetzt plötzlich tun?“, fragt eine ältere Dame im Zentrum der Stadt. „Wahl? Es ist doch Stadtfest. Wir gehen mit der ganzen Familie feiern“, sagt eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt.

Politische Grabesstille

Moskau hat sich herausgeputzt, hat Häuserwände mit Fahnen geschmückt, hat Bühnen in den Parks aufstellen lassen. Es feiert das 876. Jahr seines Bestehens. Es gibt Konzerte, Kinderschminke und ein Feuerwerk am Abend. Menschenbeglückung in Zeiten eines Krieges, den die meisten Russen beiseite schrieben, mögen auch bei und in Moskau mittlerweile fast täglich Drohnen herunterfallen. Das Bürgermeisterbüro meldet da schnell, es habe alles im Griff, die Stadt lässt rasch zerborstene Fenster ersetzen und Asphalt neu verlegen. Die Menschen spazieren durch die herbstlich gewordene Stadt, sitzen an der Sonne, stellen sich in die Schlange vor Ausstellungen in die Museen. Es herrscht politische Grabesstille.

Und doch ist der Staat äußerst bemüht, die Wahl wie eine Wahl aussehen zu lassen, auch wenn er unabhängige Wahlbeobachter als Extremisten betrachtet und einzusperren versucht. Es ist ein Probelauf für die Präsidentschaftswahl im März 2024. So werden gewisse Methoden bereits jetzt getestet. Vor allem das Abstimmen zu Hause am Rechner, das auf jede russische Region ausgeweitet wurde. Dabei lassen sich Manipulationen noch weniger nachvollziehen. In manchen Regionen werden für Kandidaten jeglicher Parteien gleich aussehende Werbezettel gedruckt. die Menschen können dabei kaum erkennen, wer sich wofür einsetzt.

Das ist letztlich gar nicht wichtig. In der Region Woronesch im südlichen Zentralrussland haben sich gleich acht Männer mit demselben Nachnamen registriert. Die Menschen können nun zwischen Wladimir, Alexander, Alexej, Anatoli, Anton, Wiktor, Jewgeni oder Juri Wachtin wählen. In der Region Smolensk hatte es einen Aufstand gegeben, weil sich ein Alexander Selenski als Kandidat – für die Regierungspartei „Einiges Russland“ – hat aufstellen lassen. Ein Rentner forderte den Mann mit dem gleichen Nachnamen wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf, entweder seinen Nachnamen ändern oder seine Kandidatur fallen zu lassen. Denn sonst beleidige dieser „alle Teilnehmer der militärischen Spezialoperation und alle Patrioten“, behauptete er. Selenski kandidiert weiter.

In der Republik Chakassien, einer Region im Süden Sibiriens, sah sich der Staat gezwungen, dem jungen Kommunisten Walentin Konowalow, der als 30-Jähriger in einer Protestwahl vor fünf Jahren den Posten des Oberhaupts der Republik erobert hatte, einen loyalen Duma-Abgeordneten als Gegenspieler vor die Nase zu setzen. Als immer klarer wurde, dass Sergej Sokol, ein Mitglied von „Einiges Russland“, der sich als Veteran des Ukraine-Krieges feierte, Konowalow unterlegen sein würde, meldete sich Sokol krank und zog seine Kandidatur zurück. Auf ein offenes Kräftemessen wollte es der Staat offenbar nicht ankommen lassen. Damit verlor Russland auch seinen einigermaßen interessantesten Wahlkampf.