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Interview„Da steckt Ignoranz dahinter“: Bestseller-Autor Ulrich Brands Kritik an der „imperialen Lebensweise“

Interview / „Da steckt Ignoranz dahinter“: Bestseller-Autor Ulrich Brands Kritik an der „imperialen Lebensweise“
Der Politikwissenschaftler Ulrich Brand beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Wirtschaft und ökologischen Grenzen. Er lehrt internationale Politik an der Universität Wien.  Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Energiekrise, Klimakrise, geopolitische Konflikte und ungerechte Verteilung von Gütern – vor diesem Hintergrund stellt der Politikwissenschaftler Ulrich Brand (55) die westliche Lebensweise infrage. In dem Buch „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus“, das inzwischen in elf Sprachen übersetzt wurde, entwerfen er und Co-Autor Markus Wissen Alternativen. Auf Einladung des „Mouvement écologique“ war er zu einem Vortrag in Luxemburg.

Zur Person

Ulrich Brand (55) ist auf der Insel Mainau im Bodensee (D) aufgewachsen. Er hat Betriebswirtschaft, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre studiert und unterrichtet seit 2007 an der Universität in Wien Internationale Politik. Forschungsschwerpunkte sind kapitalistische Globalisierung und Möglichkeiten ihrer politischen Steuerung, internationale Ressourcen- und Umweltpolitik sowie Lateinamerika.

Tageblatt: Sie haben in Ihrem Buch den Begriff „imperiale Lebensweise” geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Ulrich Brand: Der Begriff ist während der Finanzkrise entstanden. In der Krise der Globalisierung sprach man vor allem von Konzernen und Freihandelspolitik. Die Globalisierung ist aber auch in den Alltag eingezogen. Wir haben Handys, in denen Teile aus China stecken, Billig-T-Shirts, die in Bangladesh gefertigt werden und so weiter. „Imperial” ist die Selbstverständlichkeit, billig produzierte Produkte aus anderen Ländern und dem eigenen Land zu haben, ohne zu hinterfragen, unter welchen Bedingungen sie hergestellt wurden.  

Helfen da die Initiativen zu nationalen Lieferkettengesetzen? In Luxemburg gibt es eine Initiative von 20 NGOs, die das durchsetzen wollen.

Erst mal finde ich Initiativen wie diese gut. Sie sprechen die globale Dimension der imperialen Lebensweise an. Wir tun immer so, als sei Luxemburg Luxemburg oder Österreich Österreich. Maximal bezieht man sich noch auf die EU. Aber es wird darauf ankommen, wie diese Gesetze ausgestaltet sind, welche Regeln sie definieren und wie deren Einhaltung überwacht wird. Im deutschen Lieferkettengesetz gibt es viele Ausnahmen.

Ausnahmen gibt es hier auch. Der Finanzsektor will sich einem nationalen Lieferkettengesetz nicht anschließen. Wundert Sie das?

Nein. Das Finanzkapital ist ein scheues Reh. Die Industrie dahinter sucht sich Länder, wo sie sichere Bedingungen hat. In dem Moment, wo es in Luxemburg ein starkes Lieferkettengesetz gäbe, ist das eine politische Ansage, mit mächtigen Wirtschaftszweigen in Konflikt zu gehen – selbst wenn die Finanzindustrie außen vor bliebe. Der Finanzsektor, der oft eng mit der Industrie verbunden ist, will aber eigentlich, dass die Politik gehorcht.

Leseprobe

Eine Leseprobe aus dem Buch „Imperiale Lebensweise“ gibt es hier als PDF.

Sie sagen, die „imperiale Produktions- und Lebensweise“ ist in unserem Alltag „unsichtbar“, sozusagen „eingeschrieben“. Was meinen Sie damit?

Wenn wir ein Handy haben, das in Südchina produziert wird, oder Fleisch essen, das von Tieren stammt, die in Tierfabriken mit Futtermitteln aus Lateinamerika gefüttert werden, dann sind in der Auslage im Geschäft die Produktionsbedingungen unsichtbar. Da steckt ein Stück Ignoranz dahinter, man will es nicht wissen. Aber man sieht es der Ware auch nicht an – außer es steht beispielsweise Fairphone oder Bio-Fleisch drauf. Insgesamt ist unsere Warenwelt auf die Ware fixiert und die steht in einem Konkurrenzkampf.

Haben wir im reichen Norden eine falsche Vorstellung von „gutem Leben“?

Was gutes Leben bedeutet, hängt mit gesellschaftlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Diskursen zusammen. Das gute Leben heute ist mehr, mehr, mehr. Ein größeres Auto, noch einen Flug als Städtereise, noch mehr Konsum. Mit dem Buch wollen wir eine Diskussion darüber anregen, was „gutes” Leben unter der Bedingung bedeutet, Mensch und Natur nicht mehr auszubeuten. Das muss ausgehandelt werden. Die heutigen Vorstellungen von Wohlstand sind so, wie wir es jeden Tag in der Werbung sehen und es von vielen Menschen gewünscht ist.

Sie entlarven das fair produzierte Handy, den biologisch produzierten Pullover oder eine rein vegetarische Ernährung mit Bio-Produkten als „falsche“ Alternative. Warum?

Ich möchte das nicht per se kritisieren. Die falsche Alternative ist die Tatsache, dass unsere Gesellschaft so tut, als kriegten wir damit die ökologische Krise in den Griff. Die gängige Diskussion zu Nachhaltigkeit vermittelt: „Du als Konsument sollst nur grün konsumieren, die Hersteller werden dann reagieren.“ Das ist neoliberales Denken. Wenn die Nachfrage da ist, wird die Angebotsseite reagieren. Wir sehen aber, das Angebot ist billiges Fleisch, billige T-Shirts, billige Handys – und das wird von kapitalistischen Unternehmen mit Profitinteressen und einer gigantischen Werbeindustrie geschaffen.

Gleiches gilt in Ihrer Argumentation für das Vertrauen darauf, eine neue Technologie wird es schon richten. Warum?

Wir brauchen wasserstoffbetriebene Flugzeuge, wir brauchen noch effizientere Motoren, das sind die gängigen Denkmodelle. Doch für was? Warum überdenkt man nicht die Mobilität als Ganzes? Ich halte gute Technologien für notwendig, aber der Zweck muss diskutiert werden. Es geht um Machtverhältnisse und um die Produktionsseite

Sie sagen, es gibt Alternativen zur „imperialen Lebensweise”. Welche?

Wir nennen das solidarische Lebensweise. Das Grundprinzip ist nicht mehr auf Kosten anderer und nicht mehr auf Kosten der Natur zu leben. Das heißt, dass die Gesellschaften in Europa versuchen sollten, ihre Produkte zum Leben weitgehend vor Ort herzustellen. Natürlich soll es auch internationalen Handel geben, aber deutlich weniger und eben nicht mehr ausbeuterisch.

Sind Sie ein Globalisierungsgegner?

Ich sehe mich als Teil der wissenschaftlichen und politischen Bewegung für eine gerechte und nicht-zerstörerische Globalisierung. Die profitgetriebene Globalisierung geht nicht weiter. Wir müssen Globalisierung anders gestalten und wir brauchen gleichzeitig Regionalisierung.

Die Klimakrise politisiert – Bevölkerung wie Wissenschaft. 
Die Klimakrise politisiert – Bevölkerung wie Wissenschaft.  Paul Zinken/dpa

Das beste Beispiel ist die Fotovoltaik- oder Solarzellen-Industrie in Europa. In Deutschland ist sie praktisch nicht mehr existent.

Die Politik bleib zu passiv. Die chinesische Konkurrenz wurde dann zu groß. Hauptsache ist, es wird billig produziert. Das muss sich ändern.

Was wären denn Beispiele für eine solidarische Wirtschaftsweise?

Das erste wären Rahmenbedingen für ein gutes Leben für alle. Ein gutes Bildungssystem, ein gutes Gesundheitssystem, ein gutes Wohnen und eine gute Mobilität. Ich mache es an der Mobilität fest. Als Beispiel: Eine gute Mobilität kann nicht autobasiert sein. Aus Platzgründen und aus ökologischen Gründen. In Luxemburg zeigt sich das an der Grenzgängerproblematik.

Der öffentliche Transport ist hier gratis.

Stimmt. Trotzdem kommen die meisten Leute mit dem Auto, weil die Anbindung offensichtlich über längere Distanzen nicht funktioniert.

Ein zweites Beispiel?

Eine Debatte darüber, wo die Obergrenze für Konsum ist, die sogenannten Konsumkorridore, wie es in der Wissenschaft heißt. Nicht nur ein gutes Leben für die da unten, sondern die Frage, was ist genug? Das Dritte ist die Eindämmung der Profitinteressen. Der reinen Orientierung auf Rendite muss eine alternative Wirtschaftsform entgegengesetzt werden.

Sie schlagen vor, die Arbeitswelt umzubauen, ein Umdenken. Wie sieht dies aus?

Es wäre ein großer Fortschritt, wenn neben Staat und Managern die Beschäftigten stärker in den Blick gerieten. Der Umbau der Arbeitswelt muss funktionieren, ohne dass es auf deren Rücken ausgetragen wird. Beispiel Autoindustrie: Wir brauchen eine dramatische Reduzierung der Autoproduktion, das wissen alle. Aber ohne Massenentlassungen, mit guten Alternativen, etwa dem Bau von Bussen, Straßenbahnen, Zügen. Die Politik muss diesen Umbauprozess mitgestalten.

Ulrich Brand
Ulrich Brand Foto: Editpress/Hervé Montaigu

Sie weisen den Gewerkschaften eine große Rolle zu …

Die Gewerkschaften sind ja historisch gesehen aus den Kämpfen um den Schutz der Beschäftigten, gute Entlohnung und anderem entstanden. Aber sie müssen jetzt die ökologische Krise in ihr Handeln integrieren. Zweitens: Ich würde gerne die Gewerkschaften dazu ermuntern, sich viel stärker in gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen um ein besseres Leben und einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft einzumischen. Also gesellschaftspolitische Akteure zu sein, nicht nur arbeits- und beschäftigungspolitische.

Die meisten hören aber nur Verzicht aus all dem heraus.

Das ist richtig. Gerade für die gesellschaftlich Schwächeren und viele Beschäftigten bedeuten Umbaupläne von den Mächtigen Austerität. Die Arbeitnehmer sollen verzichten und die Reichen fliegen weiter zum Mond. Es geht aber nicht um Verzicht, sondern um ein gerechtes Wohlstandsmodell, in dem unter anderem Vermögenssteuern oder Erbschaftssteuern Themen sind. Es geht um einen solidarischen Wohlstand in den ökologischen Grenzen, der ein gutes Leben für alle ermöglicht.

Sie sind bei Attac aktiv und unterstützen „Fridays for Future“-Anhänger. Liegt die Hoffnung auf der Jugend?

DIE Jugend gibt es nicht. Es gibt viele junge Menschen, die konsumistisch und karrieristisch ist, auch unpolitisch, da sollten wir uns nichts vormachen. Aber es gibt junge Menschen, die etwas anderes wollen. Sie haben die Perspektive, ich lebe ja noch 60, 70 Jahre und die Welt wird wirklich schlechter. Es wundert mich nicht, dass sie sich so für die Klimafrage interessieren. Ich hoffe auf Menschen, die sich politisieren und emanzipatorisch ihrem Unmut an den politischen Verhältnissen Luft machen.

… so wie die „Last Generation“?

Bei aller Kritik im Einzelnen, ich unterstütze deren Anliegen. Die Welt wird zwar nicht verändert, weil sich Menschen auf Straßen festkleben. Aber sie wollen irritieren und eine Diskussion anregen. Das ist ihnen gelungen, auch wenn sie viel Kritik einstecken müssen. Aber auch den „Fridays for Future“-Leuten hat man anfangs „Schulschwänzerei“ nachgesagt.