Es hat sich eingebürgert, dass jüngere Musiker und Produzenten Überlebende der Gründerzeit umwerben und mit neuen Aufnahmen wieder ins Tagesgeschäft bringen wollen. So drängte Rick Rubin den ergrauten Johnny Cash mit ländlichen Versionen von bekannten Liedern zurück ins Rampenlicht der Aktualität. Bei Neil Diamond, den er auch aus der Versenkung hervorholte, untersagte er jedoch ein Revival des seifigen Orchestersounds à la „Sweet Caroline“.
Nachdem Jack White 2004 mit der alternden Countrydiva Loretta Lynn das Album „Van Lear Rose“ produziert hatte, wurde sie allerorten als dunkle Stimme aus der Vorzeit willkommen geheißen. Als Veteranin ehrte derselbe Jack White auch die heute 84-jährige Wanda Jackson, die 2011 auf der von ihm betreuten CD „The Party Ain’t Over Yet“ fauchte wie in ihren besten Tagen als First Lady des Rockabilly.
Ein später Karriereschub
Mit einem Paukenschlag, dem von ihrem 17 Jahre jüngeren Ehemann Marty Stuart produzierten Album „The Cry of the Heart“ (1), einem Mix aus frischen Songs und nostalgischen Klassikern, meldete sich die heute 80-jährige Connie Smith vor Kurzem zurück ins aktive Countrygeschehen. Schmerz und Herzschmerz, die den zeitlosen Countrysound der Vokalistin durchdrungen haben, pulsieren auch durch das neue Album, in dessen Opener „A Million and One“ die Countryspezialistin fragt: „How many teardrops have I cried over you“, wobei sie den Hörer erneut mit ihrer strahlenden, strukturierten Stimme betört.
Nicht nur auf dieser nachhaltigen Comeback-CD bringt Connie Smith zum Klingen, was laut ihren eigenen Worten die Essenz der Countrymusik ausmacht, nämlich den „Schrei des Herzens“, sondern auch auf der brandneu verlegten 4-CD-Anthologie „Latest Shade of Blue, Columbia Recordings 1973-1976“ (2) wartet sie mit temporeichen Traditionsmelodien auf, mit herzerweichenden Balladen, religiös angehauchten Titeln und sogar mitreißenden Popsongs aus den Sechzigerjahren.
Die neueste Zusammenstellung von Bear Family Records enthält alle Titel aus dem zweiten Kapitel von Connie Smiths epochaler Plattenkarriere, als sie 1973 von RCA Victor zum Label Columbia Records wechselte – darunter klassische, mitreißende Honky-Tonk-Singles aus den 1970er Jahren wie „Ain’t Love a Good Thing“, das von ihr selbst mitgeschriebene „You’ve Got Me Right Where You Want Me“, ihre Hitaufnahmen der Everly Brothes „(Till) I Kissed You“ und „So Sad“ sowie Dutzende von vergriffenen und lange Zeit schwer zu findenden Songs, wie z.B. ihre unvergessliche Weihnachtsanthologie „Joy to the World“, das von ihren eigenen Arrangements religiöser Weihnachtslieder geprägt ist, und das einzigartige, geschichtsträchtige Album „Connie Smith Sings Hank Williams Gospel“.
Die Columbia-Aufnahmen der Jahre 1973-1976 zeigen eine Frau, die die Stürme in ihrem Leben überstanden hat, an ihrem Glauben festhielt und dabei in der ganzen Tiefe und Bandbreite ihrer Gefühle reifte, was in ihrer zündenden Countrymusik zur Blütezeit des Genres seinen Niederschlag fand.
Eine lange Erfolgssträhne
Die 5-CD-Kollektion „Just For What I Am“ (3) beinhaltet alle Connie-Smith-Einspielungen für RCA Victor von Februar 1968 bis November 1972 und schließt an Bear Familys 4-CD-Blütenlese „Born To Sing“ (4) an, die sämtliche RCA-Titel von Connie Smith aus den Jahren 1964 bis 1967 enthält und sogar mit ansprechendem Countrymaterial in französischer Sprache fasziniert.
Schlag auf Schlag folgen hier zeitlose Hits wie „Just One Time“ und „Love Has a Mind Of Its Own“, bislang unveröffentlichte Melodien und auch zahlreiche Gospelsongs, die aus der Zeit stammen, als Connie Smith Ende der Sechzigerjahre nach einem Zusammenbruch ihre Lebenskrise nach eigener Aussage nur mit ihrem christlichen Glauben zu meistern vermochte.
Connie, die kleine Frau mit der großen Powerstimme, konnte damals auf die allerbesten Nashville-Musiker zurückgreifen, die für eine feine Begleitung sorgten. Darüber hinaus bestechen alle Connie-Smith-Zusammenstellungen durch die außergewöhnliche digitale Klangqualität, wie wir sie von Bear Family Records kennen, dem weltweit führenden Plattenlabel für Wiederveröffentlichungen der besten Aufnahmen aus den Anfangstagen und den Heydays von Country und Rock ’n’ Roll.
Wallfahrt zu den Pionieren
Alle diese Kompilationen beflügeln das Nostalgiegeschäft und bauen Veteranen als „lebende Legenden“ auf. Es ist richtig, sie zu ehren, sie als Vorreiter einer bahnbrechenden Musikära zu feiern und ihr Schaffen als Weltkulturerbe zu honorieren, obwohl die Popmusik mit diesem Phänomen der Nachlasspflege in eine absurde Phase eingetreten ist.
Neil Diamond, Loretta Lynn, Wanda Jackson und Connie Smith, die mit alten und neuen Alben, mit traditionellen und modernen Songs bezirzen und von jüngeren Produzenten, wie Rick Rubin, Jack White und Marty Stuart, hofiert werden, waren eigentlich nie weg – und deshalb sind sie über jedes Comeback erhaben.
Hör- und Lesetipps
(1) Connie Smith: „The Cry of the Heart“ (Fat Possum Records, 2021, 1 CD mit 8-seitigem Büchlein, 11 Einzeltitel, 17,95 Euro, EAN 0767981178424, im Vertrieb von Bear Family Records, www.bear-family.de);
(2) Connie Smith: „Latest Shade Of Blue, Columbia Recordings 1973-1976“ (Bear Family Records, Grenzweg 1, D-27729 Holste, www.bear-family.de, 2021, limitierte Edition, begrenzt auf 1.000 Exemplare, 4-CD-Deluxe-Box-Set im LP-Format mit 96-seitigem gebundenem Buch, 96 Einzeltitel, Spieldauer ca. 5 Stunden, 94,95 Euro, BCD 17609, EAN 5397102176098);
(3) Connie Smith: „Just For What I Am, The Complete Recordings 1968-1972“ (Bear Family Records, Grenzweg 1, D-27729 Holste, www.bear-family.de, 2012, 5-CD-Box-Set im LP-Format mit 76-seitigem gebundenem Buch, 151 Einzeltitel, 408:56 Min., 95,95 Euro, BCD 16814, EAN 4000127168146);
(4) Connie Smith: „Born To Sing, Her Complete Recordings 1964-1967“ (Bear Family Records, Grenzweg 1, D-27729 Holste, www.bear-family.de, 2001, 4-CD-Box-Set im LP-Format mit 56-seitigem gebundenem Buch, 127 Einzeltitel, 315:38 Min., 75,95 Euro, BCD 16368, EAN 4000127163684)
René Oth? Ja, da schreit mein Herz!