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PunkrockAnti-Flag geben Trennung bekannt – gegen Leadsänger könnten Missbrauchsvorwürfe im Raum stehen

Punkrock / Anti-Flag geben Trennung bekannt – gegen Leadsänger könnten Missbrauchsvorwürfe im Raum stehen
Ex-Anti-Flag-Sänger Justin Sane 2017 in der Rockhal Foto: Editpress/Alain Rischard

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Eine Frau aus der New Yorker Punkszene beschuldigt den „Leadsänger einer bekannten politischen Punkband“ des sexuellen Missbrauchs. Zwar wird diese Person nicht namentlich erwähnt, doch unter Punk-Fans gibt es einen starken Verdacht, um wen es sich handeln könnte. Denn: Viele Zeit- und Ortsangaben, die die Frau in einem Podcast macht, weisen auf eine bestimmte Band hin. Und die löst sich ausgerechnet wenige Stunden nach Veröffentlichung des Statements ohne Vorwarnung auf – und löscht alle Internetkanäle. Viele Fans der US-Band Anti-Flag sagen: Zufall sieht anders aus.

Kristina Sarhadi, eine Therapeutin aus New York, beschreibt am 19. Juli im Podcast „Enough“, wie sie von einem bekannten Punk-Sänger sexuell missbraucht worden sei. Sie komme selbst aus schwierigen Verhältnissen und habe in der Punk-Subkultur einen geschützten Raum gefunden – oder zumindest gedacht, diesen vorzufinden. Schon als Kind habe sie den Sänger, der zu keinem Moment namentlich genannt wird, bewundert und sich mit den engagierten Inhalten der Band identifiziert. Doch der Tag, an dem sie ihr Idol endlich persönlich traf, habe sich als Albtraum entpuppt und sowohl ihren Lebenslauf als auch die Art, wie sie mit Musik umgeht, maßgeblich verändert.

In ihrem einstündigen Beitrag beschreibt sie unter anderem, wie der Sänger in einem Auto übergriffig geworden sei und sie anschließend in einem Hotelzimmer vergewaltigt habe. „Es gab mehrere Momente, in denen ich dachte, ich würde sterben“, schildert Sarhadi. Auch als sie geschrien und den Mann angefleht habe, habe dieser nicht aufgehört.

Connecting the dots

Wenige Stunden nach Veröffentlichung des Beitrags gibt die Punkrock-Band Anti-Flag ihre Auflösung nach mehr als 30 Jahren bekannt. Anti-Flag gehören neben Rise Against und Bad Religion zu den kommerziell erfolgreichsten Vertretern des Genres. Für diesen Sommer sind mehrere Auftritte geplant, nichts deutet auf eine kommende Trennung hin.

 
  Screenshot: patreon.com/antiflag

Am 20. Juli erscheint dann folgende Mitteilung auf der Patreon-Seite der Band: „Anti-Flag haben sich aufgelöst. Der Patreon-Kanal wurde in einen Modus umgestellt, in dem er keine monatliche Gebühr mehr einzieht. In den kommenden Wochen wird euer Geld zurückerstattet und auch diese Seite wird offline gehen.“ Patreon ist eine Plattform, auf der Personen Künstler anhand monatlicher Geldbeiträge unterstützen können. Ein Mitglied der Crew von Anti-Flag bestätigt auf Instagram, dass die Gruppe aufhört, könne aber nichts Weiteres zu diesem Thema sagen.

Zeitgleich verschwinden alle Social-Media-Konten von Anti-Flag, unter anderem von Leadsänger Justin Sane, der gleich nach der Veröffentlichung von Kristina Sarhadis Beitrag in Verdacht geraten war. Aufmerksame Punk-Fans geben an, Überschneidungen zwischen diversen Hinweisen in dem Beitrag und Anti-Flags Aktivitäten entdeckt zu haben. Sie sind sich sicher: Sane ist die Person, um die es in der Podcast-Episode geht, und die Anschuldigungen sind der Grund, warum sich die Band über Nacht und ohne Vorwarnung aufgelöst hat. Die Musiker haben sich bislang nicht dazu geäußert – und auch nicht dementiert, dass es sich möglicherweise um Justin Sane handelt.

„Wir haben ein Sexismusproblem“

Die Nachrichten lösen eine Schockwelle innerhalb der Punk-Community und der Fanbase von Anti-Flag aus. Viele Menschen, die die Aktivitäten der Band seit Jahren verfolgen, drücken ihre Enttäuschung darüber aus, dass – sollte sich der Verdacht bestätigen – Sane jahrelang mit politisch linken und progressiven Lyrics von sich reden ließ und letztendlich von genau den Machtstrukturen profitiert habe, die er angeprangert hatte. So schreibt die Autorin und Publizistin Diana Ringelsiep, die seit langem in der Punkszene aktiv ist, auf Instagram: „Mich lässt das gerade echt ratlos zurück, weil es sich dabei mal wieder um eine Band handelt, die sich über 30 Jahre konstant durch ihre politische Arbeit und ihre feministische Haltung hervorgetan hat. Es war schlichtweg eine der wenigen verbleibenden Bands, bei denen man glaubte, safe zu sein, weil es sich um welche der wenigen letzten Helden handelt, die man reinen Gewissens hochhalten kann.“

Sie kritisiert ferner die Haltung vieler männlicher Punkbands, die sich nicht trauen würden, sich mit Opfern von Missbrauch zu solidarisieren. „Danke für deine Aufklärungsarbeit, Diana. Das ist super, was du machst, aber wir trauen uns leider nicht, öffentlich Stellung zu beziehen, weil wir Angst vor den Reaktionen haben“, sei eine häufige Art von Privatnachrichten, die sie von Gruppen aus der deutschen Punkszene erhalten würde. Sie fragt: „Liegt es darin, dass ihr eure Buddies in Schutz nehmen wollt oder habt ihr selber so viel Dreck am Stecken, dass ihr Angst habt, dass Vorwürfe gegen euch laut werden, sobald ihr die Schnauze aufmacht?“ Zur Identifizierung der Person Justin Sane als Täter sagt sie: Die Beschreibungen seien „so detailliert, dass man selbst ohne direkte Bandauflösung und Löschung aller Kanäle am Tag der Veröffentlichung darauf gekommen wäre, dass es sich dabei eigentlich nur um Anti-Flag handeln kann“.

Die Fotografin und Musik-Journalistin Maria Graul, ebenfalls in der Szene aktiv, schreibt hierzu: „Leute, diese Erkenntnis ist alles andere als neu. Das Thema wabert wie heißes Frittenfett in der Subkultur. […] Wir, eine patriarchal sozialisierte Gesellschaft, Szene und Subkultur, haben ein Sexismusproblem und es ist längst überfällig, dafür Verantwortung zu übernehmen.“

Mit Songs wie „You’ve Got to Die for the Government“, „Brandenburg Gate“ und „Racists“ haben sich Anti-Flag stets ein linksprogressives, feministisches Image gegeben. Die Band hat sich lautstark – laut Kritikern auf zum Teil plakative Weise – für den Kampf gegen u.a. Kapitalismus, Imperialismus, Polizeigewalt und Umweltzerstörung starkgemacht. Ein Image, bei dem der Lack langsam Kratzer abbekommt und bei dem sich die Frage aufdrängt, inwiefern bestimmte Musiker „practise what they preach“ – und inwiefern sich nicht vielmehr ein feministisches Mäntelchen umgestülpt wird.

 Foto: Editpress/Alain Rischard

Zur Band

Anti-Flag wurde 1988 in Pittsburgh, Pennsylvania, gegründet und setzte sich zuletzt aus dem Sänger und Leadgitarristen Justin Sane, dem Schlagzeuger Pat Thetic, dem Rhythmusgitarristen Chris Head und dem Bassisten Chris #2 zusammen. Während die ersten Alben bei kleineren Plattenfirmen erschienen, darunter dem von der Band gegründeten A-F Records, wechselte die Gruppe 2005 für einige Jahre zum Major-Label RCA Records, was teilweise von Fans kritisiert wurde.

Zu den bekanntesten Alben gehören das Debüt „Die for the Government“ (1996), „Underground Network“ (2001), „The Terror State“ (2003), „For Blood and Empire“ (2006), „American Spring“ (2015) und „American Fall“ (2017). Außerdem sind mehrere Kompilationsalben erschienen, darunter „A Document of Dissent: 1993-2013“ mit insgesamt 26 Songs. Im Januar dieses Jahres wurde der 13. und letzte Longplayer „Lies They Tell Our Children“ veröffentlicht.

Das Logo der Band, der Gunstar, wurde erstmals auf dem Cover der EP „Mobilize“ (2002) abgedruckt. Es zeigt einen Stern, der sich aus fünf in der Mitte gebrochenen Sturmgewehren zusammensetzt und die pazifistische Haltung von Anti-Flag darstellen soll. Bekannt wurde die Gruppe ebenfalls durch die große Anti-Kriegs-Demo, zu der sie zusammen mit dem US-amerikanischen Autor und Filmregisseur Michael Moore zu Beginn des Irakkriegs 2003 aufgerufen hatte.