Es war ein Ereignis, das Mediengeschichte schrieb. Vor 35 Jahren hielt das Geiseldrama von Gladbeck ganz Deutschland drei lange Tage in Atem. Die wahnwitzige Odyssee von Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski dauerte vom 16. bis zum 18. August 1988 und wurde quasi nonstop live im Fernsehen übertragen, wobei die Journalisten jede Grenze überschritten und sich somit der Sensations- und Quotengier schuldig machten. Was nur möglich war, weil eine unglaublich stümperhafte Polizei sie nicht daran hinderte.
„Können Sie sich vorstellen, dass er abdrückt?“, fragt ein Journalist live vor laufender Kamera eine junge Frau, der einer der Gangster eine Pistole auf den Hals gerichtet hat. „Nö, eigentlich nicht“, antwortet Silke Bischoff. Keine 24 Stunden später ist sie tot. Genau wie der 14-jährige Schüler Emanuele De Giorgi, das zweite Todesopfer des Geiseldramas, das zum Reality-TV wurde. Zu einem Roadmovie, nur in echt.
Ein Roadmovie, in dem Journalisten die wichtigste Nebenrolle besetzten. Die Geiselnehmer stellten ihre Forderungen nach dem Banküberfall in einem TV-Interview. Millionen Fernsehzuschauer sahen später, wie ein Bankangestellter mit einem Würgeband um den Hals das Lösegeld ins Innere der Bank zerrte. Als Rösner und Degowski mit zwei Geiseln in das bereitgestellte Fluchtauto stiegen, übertrug das „heute-journal“ live. Später kaperten die Geiselnehmer einen voll besetzten Linienbus und stellten erneut vor laufenden Kameras ihre Forderungen, mit der Pistole in der Hand. Spätestens jetzt waren die Medien zu ihrem Sprachrohr geworden. Fotografen stiegen in den Bus, um Bilder der zu Tode geängstigten Geiseln zu machen. Später umzingelten Schaulustige und Journalisten den Fluchtwagen der Verbrecher in einer Einkaufsstraße. Interviews wurden geführt, auch mit den Geiseln.
Beim Gladbecker Geiseldrama versagten demnach mit der Polizei und den Journalisten zwei wichtige Institutionen. Was Konsequenzen haben sollte, die Polizei wurde komplett umstrukturiert und der Deutsche Journalistenkodex nach langen Diskussionen über die Verantwortung der Medien verschärft. Mitte der 1980er-Jahre waren die ersten Privatfernsehsender gegründet worden, die TV-Landschaft veränderte sich.
Trotzdem stehen die Medien heute unter viel größerem Druck, da der digitale Wandel ihr klassisches Geschäftsmodell bedroht. Auf der Jagd nach Klicks ist Voyeurismus nach wie vor ein probates Mittel. Da kann aus einem Flurbrand schnell mal ein Inferno werden, was der Glaubwürdigkeit nicht besonders förderlich ist. Dabei ist die wichtiger denn je. Denn wir leben in Zeiten, in denen Populisten jeglicher Couleur ungeniert alles als „Fake News“ bezeichnen dürfen, was ihnen nicht in den Kram passt, und Schwurbler, Verschwörungstheoretiker sowie Nazis gleichermaßen die Begriffe Mainstream-Medien und Lügenpresse geprägt haben.
Also stellt sich 35 Jahre nach dem Gladbecker Geiseldrama die Frage, ob die Lehren von 1988 vergessen sind. Im Gegensatz zu damals gibt es heute Handys, das Internet und die sozialen Netzwerke. Alles wird aufgezeichnet, alles ist online verfügbar. Und zwar für jeden.
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