Übermorgen beginnt ein neues Jahrzehnt – bei der Bilanz, die man beim Überschreiten solch einer symbolischen Grenze zieht, kann und soll man über geopolitische Spannungen reden, die wichtigen soziologischen Entwicklungen – Weinstein, #metoo und die Konsequenzen – thematisieren, sich Sorgen machen über ansteigenden Antisemitismus und die Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien. Grundlegend ist aber ein epistemischer Umschwung, der unsere Gesellschaft durchdringt und ohne den alle oben genannten gesellschaftlichen Phänomene nicht in der Form, in der sie erschienen sind, möglich gewesen wären. Vergleicht man die Zeit, die wir vor zehn Jahren im Internet und mit unseren Smartphones verbracht haben, mit der durchschnittlichen Bildschirm-Verweildauer eines heutigen Nutzers, wird klar, dass das letzte Jahrzehnt von der gesellschaftlichen Übernahme der Smartphones geprägt wurde. Mittlerweile benutzen wir unsere Smartphones so oft, dass diese uns sogar warnend die Zeit, die wir mit ihnen verbringen, anzeigen – dass man einen Blick aufs Handy werfen muss, um zu erfahren, dass man zu viel Zeit mit seinem Handy verbringt, ist dabei eine ironische Antinomie, die vielsagend ist.
„Tout le malheur des hommes vient d’une seule chose, qui est de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre“, schrieb damals schon Blaise Pascal. Würde der französische Philosoph heute leben, würde er sich nicht nur in seinen Überlegungen bestätigt fühlen – er wäre gar der Meinung, wir würden heute in den unglücklichsten aller Zeiten leben. Wir haben größtenteils verlernt, uns mit uns selbst zu befassen, der Kommunikationsrausch und die Vielfalt an Unterhaltungsmöglichkeiten resultieren in einem blinden Zappen zwischen oftmals unnützen Informationen, die unsere Existenzen mit oberflächlicher Sinnstiftung ausstatten sollen. Dabei entspricht dieses fragmentierte Leben sehr wohl einer postmodernen Identitätsauffassung – nur sind Figuren in postmodernen Romanen selten sehr glücklich. Ein etwas esoterischer Gegenpol ist dabei der Boom von Selbstfindungs-Anleitungen, die von spirituellen Gurus geschrieben werden. Das zeitgenössische Individuum meditiert, geht zum Yoga – und stürzt sich danach auf sein Smartphone, um der Welt sein meditierendes Ich auf Instagram vorzustellen.
Laut Blaise Pascal ist all unser Treiben eine bloße Ablenkung vor der banalen Erkenntnis unserer Sterblichkeit. Das Smartphone hat uns alle zu Meistern der Ablenkung gemacht. Bei dieser grundepistemischen Änderung – der horizontale Informations-Overkill auf den verschiedensten Kanälen steht im starken Kontrast zum vertikalen Fokussieren auf ein Thema – leidet unsere Aufmerksamkeitsspanne an einer zerstreuten, multimedialen Wahrnehmung. Kulturelle Events sind alleine deswegen wichtig, da beispielsweise ein Theaterbesuch uns zwingt, uns für ein paar Stunden auf eine einzige Erfahrung zu fokussieren. Nicht umsonst fordern auch immer mehr Musiker, dass die Fans während der Konzerte ihr Handy in der Tasche lassen. Das Smartphone übernimmt zudem immer mehr unserer geistigen Aufgaben, sodass wir diverse Fähigkeiten, verschiedenes Wissen oder gar Erinnerungen gar nicht mehr speichern müssen, da all dies ja auf Knopfdruck abgerufen werden kann. Womit diese freie Speicherkapazität in unseren Köpfen allerdings gefüllt wird, bleibt eine offene Frage – und eine Herausforderung für das kommende Jahrzehnt.
Ein Jahrzehnt besteht aus zehn Jahren. Übermorgen beginnt das zehnte und damit das letzte Jahr des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts....und nicht (wie im Artikel vermerkt und fälschlicherweise von vielen angenommen) das erste Jahr eines neuen Jahrzehnts.
Das erste Jahr des neuen Jahrzehnts beginnt erst am 1. Januar 2021.
Wünsche trotzdem das Beste für 2020.
P.L.
schéin, passt gud elo fiir d'Änn vum Joer
et gin der och nach déi dat nöt esou maachen
mä wann een dann
den Text esou liest
da misst een u sech vläicht eng Kéier iwwert sech selwer nodenken
ee schéine Rutsch
de maulkuerf