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50 Jahre Prager Frühling: Begraben unter Panzerketten

50 Jahre Prager Frühling: Begraben unter Panzerketten

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Vor 50 Jahren marschierten eine halbe Million Soldaten des Warschauer Pakts in
die Tschechoslowakei ein und beerdigten die Hoffnungen auf einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz».

«Auf dieser Straße dort habe ich die Panzer kommen sehen. Ich habe einen Stein in ihre Richtung geworfen. Und dann habe ich die Kugeln zischen gehört», erinnert sich Milan Tesar an den 21. August 1968. Tesar war 16 Jahre alt, als die sowjetische Armee in die Tschechoslowakei einmarschierte, auch in seine kleine Stadt Hostivice in der Nähe von Prag. Er beteiligte sich an dem spontanen Widerstand gegen die Invasion, die die Reformbewegung des Prager Frühlings zunichtemachte.

Der damalige Chef der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei, Alexander Dubcek, wollte einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» etablieren. Die Zensur war abgeschafft worden, es herrschte Versammlungsfreiheit und die ersten wirtschaftlichen Reformen begannen zu greifen. Dubcek weckte mit seinem Kurs Hoffnungen auf eine Demokratisierung und genoss großen Rückhalt in der Bevölkerung.

Warm und friedlich

Der Abend des 20. August war sommerlich warm und friedlich, das Fernsehen zeigte einen rührseligen Film und die Nachrichten handelten von der Debatte um ein neues Statut der Kommunistischen Partei und den bevorstehenden Besuch des UN-Generalsekretärs Sithu U Thant. Bis auf wenige Eingeweihte in Partei und Geheimpolizei ahnte keiner der 14 Millionen Tschechen und Slowaken etwas von der bevorstehenden Tragödie.

Doch bereits in der Nacht rollten die ersten sowjetischen Panzer über die tschechoslowakische Grenze, unterstützt von bulgarischen, ungarischen, polnischen und ostdeutschen Militäreinheiten. Insgesamt rückten mehr als eine halbe Million Soldaten ein. Die Regierung in Prag rief die Bürger auf, «ruhig zu bleiben und nicht zu den Waffen zu greifen».

Im Morgengrauen gab es die ersten Toten – getroffen von den Kugeln der Invasoren oder begraben unter Panzerketten. «Insgesamt kamen zwischen dem 21. August und dem 31. Dezember 1968 auf tschechoslowakischem Gebiet 137 Personen ums Leben», sagt der Historiker Libor Svoboda vom Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag. Etwa 15 zumeist junge Leute starben, als eine Menschenmenge versuchte, die Übernahme des tschechoslowakischen Radiosenders im Herzen von Prag zu verhindern. «Der Sender war zu einem Symbol des Widerstands gegen die Besatzung geworden, weil er auch eine gewisse Zeit nach Beginn des Einmarsches noch frei berichtete», erläutert Svoboda.

20 Jahre und 402 Tote

Auch an vielen anderen Orten setzten sich die Menschen friedlich gegen die sowjetische Armee zur Wehr. Sie demontierten Straßenschilder oder drehten sie in die falsche Richtung, um die ortsunkundigen Soldaten zu verwirren. Andere hängten Schilder auf, die den Eindringlingen den Weg zurück nach Moskau wiesen. Demonstranten skandierten Parolen wie «Iwan, geh nach Hause». Regelmäßig ertönten im Einklang Hupen, Fabriksirenen und Kirchenglocken als Zeichen der Unterstützung für den von der Roten Armee verhafteten Dubcek.

Dieser und andere Amtsträger wurden in den Kreml gebracht und gezwungen, das sogenannte Moskauer Protokoll zu unterschreiben. Es machte fast alle Reformen rückgängig und schrieb die Stationierung sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei fest. Die Besatzung dauerte mehr als 20 Jahre. 402 Todesopfer durch die ausländischen Truppen haben Historiker gezählt.

«Viele Tschechen und Slowaken, aber auch mehrere Touristen kamen durch Verkehrsunfälle ums Leben, die sowjetische Soldaten verschuldet hatten», sagt Svoboda. «Die hatten oft keine Erfahrung beim Steuern ihrer schweren Fahrzeuge.» Der letzte sowjetische Soldat verließ das Land erst 1991 – zwei Jahre nach der Samtenen Revolution, die die kommunistische Herrschaft in Prag beendete. (AFP)


Und heute? Gemischte Gefühle und wenig Wissen …

Für heftige Diskussionen sorgte indes, dass Tschechiens russlandfreundlicher Präsident Milos Zeman zum runden Jahrestag keine Rede hält. Er wähle das Schweigen, um seinen Freund und Kremlchef Wladimir Putin nicht zu vergraulen, kritisierte die Zeitung Hospodarske noviny. Zeman sei mutig gewesen in einer Zeit, in der Mut Opferbereitschaft erfordert habe, erwiderte sein Sprecher: «Und das ist weit wertvoller als tausend Reden nach 50 Jahren.» Seinem Lebenslauf zufolge wurde Zeman im Jahr 1970 nach Kritik an der sowjetischen Okkupation aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen.

Was im politisch heißen Sommer 1968 passiert ist, das wissen heute viele junge Menschen nicht mehr. Eine aktuelle Umfrage der Organisation Postbellum ergab: Für 46 Prozent der Tschechen zwischen 18 und 24 Jahren ist die Sowjetinvasion eine große Unbekannte. Manche denken beim Prager Frühling zuerst an ein Festival für klassische Musik. Für den Journalisten Richard Seemann ist das keine Überraschung. «Wie viele von uns gibt es noch, die sich daran erinnern?», fragt er. Ebenso wie viele Kollegen, die sich damals nicht anpassen wollten, verlor er seinen Job beim Rundfunk. Bis zur demokratischen Wende von 1989 musste er seine Familie als Heizer in einem Krankenhaus und Verkäufer von Sanitärartikeln ernähren.

Wenige Monate nach der Invasion, im Januar und Februar 1969, verbrannten sich die Studenten Jan Palach (nach dem in Luxemburg ein Platz benannt wurde) und Jan Zajic in Prag selbst – aus Protest gegen die sowjetische Besatzung. Der damalige Dissident und spätere erste frei gewählte Präsident Vaclav Havel (1936-2011) sagte einmal: «Die Gesellschaft hat diese radikale Tat sofort verstanden; sie drückte die Verzweiflung und Hilflosigkeit dieser Zeit aus.»


Dubcek, die Symbolfigur

Die wichtigste Symbolfigur des Prager Frühlings von 1968 ist der damalige tschechoslowakische KP-Chef Alexander Dubcek. Der slowakische Historiker und Politologe Juraj Marusiak von der Slowakischen Akademie der Wissenschaften analysiert, was von Dubceks Zielen geblieben ist. Marusiak, geboren 1970, ist einer der prominentesten Historiker und Politologen der Slowakei.

Tageblatt: Was war das Programm von Alexander Dubcek?

Juraj Marusiak: Dubcek selbst war kein politischer Theoretiker oder gar Ideologe. In der kommunistischen Führung gehörte er zu den Leuten, die eine enge Beziehung zur Bevölkerung hatten und ihr mehr als Partner denn als Machtpolitiker gegenübertraten. Die eigentlichen Reformer sahen ihn eher als Kompromisskandidaten zwischen ihnen und der konservativen Machtstruktur. Erst im Zuge des Reformprozesses wandte er sich mehr dem radikaleren Flügel zu. Die Entwicklung in der Tschechoslowakei wurde von den Regimen in der DDR, in Polen und auch Ungarn als Bedrohung gesehen. Als Impulsgeber für die Entstehung des Eurokommunismus im Westen bedrohte der Prager Frühling den Moskauer Hegemonie-Anspruch.

Dubcek ist 1992, also bald nach der Wende, gestorben. Hätte sich ansonsten etwas von seinem ursprünglichen Programm noch verwirklichen lassen?

Es ist schwer zu sagen, was nach der Wende von seinem Modell eines «Sozialismus mit menschlichem Antlitz», also eines «dritten Weges» zwischen westlichem Kapitalismus und stalinistischer Diktatur, tatsächlich noch fortsetzbar gewesen wäre, nachdem der Sozialismus als solcher überwunden war. Dubcek selbst trat nach 1989 der Sozialdemokratischen Partei der Slowakei bei und wurde ihr Vorsitzender. Vom eigentlichen Kommunismus hatte er sich also schon losgesagt. Davor hatte er sich fast zwanzig Jahre kaum mehr politisch engagiert und zum Beispiel auch nicht die «Charta 77» der Dissidenten um Vaclav Havel unterschrieben. Umfragen zeigten zwar noch große Sympathien für die Idee eines Sozialismus, aber ohne klare Konturen. In den ersten Monaten nach der Wende wünschten sich die meisten eine Art Synthese aus westlichem Wohlstand mit der sozialen Sicherheit des alten Systems. Die schnelle Transformation in fast allen ex-sozialistischen Staaten hat so ein Modell aber obsolet gemacht.

Wie sehen Tschechen und Slowaken Dubcek heute?

In Tschechien sieht man ihn zwar auch als Symbolfigur für die Ideale des Prager Frühlings, wirft ihm aber auch vor, dass er sich dem sowjetischen Druck fügte und die Rücknahme der meisten Reformen und Einschränkungen der Menschenrechte unterschrieb. In der Slowakei sieht man ihn vor allem als Symbol für Anständigkeit und moralische Werte in der Politik. Damit ist er eine Identifikationsfigur, auf deren Erbe sich linke und sozialdemokratische ebenso wie bürgerliche Politiker über Parteigrenzen hinweg berufen. Noch dazu verbindet man hier mit ihm die Föderalisierung der Tschechoslowakei, die den Slowaken mehr Gleichberechtigung brachte.