Eine der Kernfragen des Menschen ist die nach dem Glück. Wann ist jemand glücklich? Marie-Paule Theisen hat sich mit dieser Frage wissenschaftlich beschäftigt. Dafür hat die Universität Luxemburg ihr im Dezember den Doktortitel im Fachbereich Psychologie verliehen. Da war sie selbst 75 Jahre alt.
Von Wiebke Trapp
Standardmäßig wird Glück an die Höhe des Bruttoinlandsprodukts geknüpft. Es gibt aber auch andere Tendenzen, wie der „UN World Happiness Report“ für 2017 zeigt. Dort wird Glück unter anderem daran gemessen, ob es eine Vertrauensperson bei Krisen im Leben gibt. Marie-Paule Theisen hatte und hat eine solche Person, ihre Angehörige Germaine. Die Frau, die sie liebevoll „Tata“ nennt, hat entscheidenden Einfluss auf den Lebensweg ihrer Nichte, die sich später wissenschaftlich mit der Frage nach dem Glück beschäftigen wird. Die akademische „Karriere“ fängt spät an. Als junge Frau ist daran gar nicht zu denken. Marie-Paule steht früh auf eigenen Beinen. Die Eltern führen die Dorfbäckerei und -konditorei in Rümelingen, das Mädchen erlernt den Beruf der „Kindergärtnerin“.
Darauf ausruhen tut sie sich nie. Bis sie auf dem zweiten Bildungsweg berufsbegleitend das Abitur nachholt, ist sie Abschluss um Abschluss von der Kindergärtnerin zur Grundschullehrerin aufgestiegen. An der Escher Brillschule unterrichtet sie lange. Für das „Bac“ muss allerdings eine spezielle Hürde genommen werden: Das letzte Schuljahr will sie unter Schülern verbringen und lernen. Da ist Marie-Paule 33 Jahre alt, hat gerade „congé sans solde“ beantragt und keine Wohnung. Tante Germaine nimmt sie auf, das Abitur gelingt. Die beiden Frauen bleiben sich nah, bereisen zusammen die Welt. 25 Jahre geht das so.
Dann kommt der 23. Dezember 2005. Ein Treppensturz macht Germaine zu einer ans Bett gefesselten Schwerstbehinderten. Für Marie-Paule steht sofort fest: „Sie hat mich damals nicht im Stich gelassen, jetzt lasse ich sie nicht im Stich.“ Sie holt ihre „Ersatzmutter“ aus dem Krankenhaus und wird zu einer „pflegenden Angehörigen“, wie es banal im Fachjargon heißt. Es ist Rundumbetreuung, sieben Tage die Woche, und der Auslöser für ihre akademische „Karriere“, die sich teilweise im Ruhestand abspielt. „Die Universität hat mir dabei geholfen, ein Burn-out zu verhindern“, sagt sie.
Bevor der Unfall passiert, beobachtet Marie-Paule etwas bei ihrer Tante. Etwas, das nicht nur diese Familie betrifft. Germaine war ein Leben lang Hebamme – mit Leib und Seele. In Esch wird sie noch lange nach der Pensionierung von Müttern wiedererkannt. „Nach der Pensionierung war sie oft traurig“, meint Marie-Paule, die inzwischen längst damit begonnen hat, sich mit dem eigenen Älterwerden auseinanderzusetzen. „Ich habe immer gemerkt, dass ihr etwas fehlt.“
Vielen anderen Rentnern geht es ähnlich wie Germaine. „Reisen kann man ein paar Jahre lang“, erklärt Marie-Paule, „irgendwann ist auch im Haus alles gemacht und der Garten ist nur im Sommer eine Ablenkung.“ Langeweile kehrt ein – gemischt mit dem Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden.
Glücklichsein kann man lernen
Die Signale aus dem gesellschaftlichen Umfeld machen es nicht besser. „Rentner kosten die Gesellschaft nur noch, bringen ökonomisch aber nichts mehr.“ Ein anderes Wort dafür ist Unglücklichsein. Für Marie-Paule steht schnell fest: „Ich will kein mürrischer, unzufriedener Senior werden.“ Sie schreibt sich an der Universität ein. Nach dem Bachelor legt sie 2011 eine Masterarbeit zum Thema „Langeweile im Alter“ vor. Darin entwickelt sie einen Drei-Stufen-Plan, um genau das zu vermeiden. Das könnte man doch weiterentwickeln, findet nicht nur sie, sondern auch ihr Professor. Dieser bietet sich als Doktorvater hierfür an, woraufhin sie sich an die Arbeit macht. Germaine steht bei der Wahl des Themengebietes Pate, Gerontologie, die Wissenschaft des Älterwerdens. „Ich wollte sie besser fördern können“, sagt Marie-Paule, die sich trotz deren Bettlägrigkeit „Glück“ für ihre Vertrauensperson wünscht.
Glück kann man also lernen? „Ja“, antwortet sie prompt und wirft mit Fachbegriffen wie „Mindfulness-Based Stress Reduction“ um sich. Übersetzt heißt das „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“. Achtsamkeit? Für im Hamsterrad der Leistungsgesellschaft Getriebene hört sich das seltsam an. Nicht selten löst es sogar einfach nur wegwerfende Handbewegungen und Kommentare wie „esoterischer Quatsch“ aus. Jenen kontert sie gerne mit dem wachsenden Forschungsstand auf diesem Gebiet, den Belegen in ihrer Doktorarbeit und führenden Köpfen wie dem Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn1) oder den Neurowissenschaftlern Richard Davidson2) und Ulrich Ott3). Das sind meist Totschlagargumente, denn auch „Mr. Google“ kennt den Ausdruck und verweist auf nicht wenige höchst seriöse Seiten zum Thema. Der zusammengerollte Doktortitel in der anthrazitfarbenen, schweren Karton-Rolle mit dem Logo „Uni.lu“ ist das eine.
Das andere ist die zukunftsweisende Idee, die während der jahrelangen Arbeit daran wächst. Marie-Paule Theisen bringt eine „Akademie für Ruhestandsplanung“ ins Spiel. Diese ist in ihren Augen ein echter gesellschaftlicher Beitrag zu den Folgen des demografischen Wandels, der zwar immer beschrieben wird, aber nur bedingt zu Analysen, geschweige denn Visionen führt. „Es bleibt zu hoffen, dass (…) der Nutzen des Achtsamkeitskonzepts zur Stressreduktion und Gesunderhaltung der Zielgruppe 50plus auch hierzulande von den Verantwortlichen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft erkannt wird“, schreibt Marie-Paule Theisen im Kapitel „Ausblick“. „Möge die vorliegende Arbeit zu ‹Achtsamkeit als Determinante von Glück im Alter› als bescheidener Baustein zum glücklichen Leben für gesunde, gestresste Berufsaussteiger und Rentner gesehen werden“, geht es im selben Kapitel weiter. Der Doktortitel der Autorin im Alter von 75 Jahren unterstreicht diese Aussagen nur noch mehr.
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