Es ist ein Refugium, der Hof der Eltern am Ufer des Mjøsa, des größten norwegischen Sees, etwa eine Autostunde nördlich der Hauptstadt Oslo gelegen. So oft es Konzerttermine oder Studioaufnahmen gestatten, kommt die Violinistin Mari Samuelsen in das heimatliche Haus. Hier ist sie aufgewachsen, hier ist sie mit ihrem Bruder Håkon ihre ersten gemeinsamen Schritte gegangen, die zur Weltkarriere führten – gemeinsam gaben sie Konzerte, nahmen Alben auf, Mari an der Geige, Håkon am Cello. Noch heute sind die Geschwister eng miteinander verbunden. Doch vor allem ist das Haus am Rande von Hamar Ruhepol das Gegenstück zur Hektik der Großstädte, Orchestersäle, Studios oder Flughäfen.
Entspannt sitzt sie auf dem Sofa, die Beine hochgezogen, ein weites bequemes Sweatshirt verrät Gemütlichkeit, zu Hause sein. Keine eng anliegende Konzertgarderobe, kein gleißendes Bühnenlicht. Durchs Fenster scheint vom See her das Licht der untergehenden Sonne. Unwillkürlich geht der Blick der Musikerin über den Garten auf die Weiten des Sees, an dessen Ufer sie aufgewachsen ist. Sie liebt dieses Licht, den See und den Wald auf der anderen Seite des Hauses. „Wart ihr schon mal in Island?“, fragt Mari, um auf den Kernpunkt des Nachmittags zu kommen, die Wirkung von Licht. „Vielleicht war es Zufall, aber ich habe dort nie einen klaren Sonnentag erlebt, immer, wenn ich Island besuchte, war dort so ein mystisches Licht, ich bezeichne es als ‚Nebel-Licht‘. Fast so, als ob Erde und Himmel zusammenstoßen. Ein Licht, das mich sehr faszinierte.“
Wie die meisten Skandinavier hat Mari Samuelsen ein besonderes Verhältnis zum Licht. „Das ist ganz bestimmt so, weil wir so wenig davon haben. Es gibt nur kurze Sommer, dafür aber lange Zeit Herbst und Winter, Monate, in denen es ständig dunkel ist. Vielleicht warten wir deshalb so sehnsüchtig auf das Frühjahr, wenn das Licht wiederkommt und mit ihm alles Leben. Das können vielleicht die Menschen im Süden Europas gar nicht so empfinden wie wir aus dem Norden. Ihr habt genug Licht, manchmal sogar zu viel“, lächelt sie.
Gerade eben hat Mari Samuelsen ein neues Solo-Album vorgestellt: „Lys“ (Licht) heißt es und handelt von den verschiedensten Formen des Lichts, eingefangen in die Klänge der Violine.
Lys – vom Licht zum Klang
Die Idee zu einem solchen Werk kam ihr bereits vor einigen Jahren. Sie saß auf einem Flughafen, hatte den Abflug nach London verpasst. „Plötzlich schien Sonnenlicht durchs Fenster, ich hatte auf einmal so viel Zeit, aller Stress war völlig von mir abgefallen“, erinnert sich Mari an diesen Tag. „Ich saß da auf diesem Flughafen, niemand wollte etwas von mir und ich konnte auch nichts anderes machen als einfach nur warten. Das Sonnenlicht schien durchs Fenster und mischte sich mit dem Kunstlicht der Halle – es war der Moment, als die Idee kam, Musik über das Licht zu sammeln und zu interpretieren.“
Dabei, so sinniert die Künstlerin, gebe es so verschiedenartige Formen des Lichts. Licht, das Leben spendet, aber auch das starke Sonnenlicht, das mit seiner Wärme alles austrocknet und in vielen Teilen der Erde das Leben nimmt. „Und es gibt ein kaltes, weißes – ich möchte fast sagen, ein negatives Licht. Ich erinnere mich an das Krankenhaus, in dem meine Oma während meiner Kindertage lag. Ich habe sie sehr geliebt, nun musste ich sie hier sehen und überall war dieses weiße kalte Licht …“ Erfahrungen, die wohl jede/r von uns im Leben einmal machen musste.
Doch wie kann man die verschiedenen Formen des Lichts in Töne einfangen, ihnen Form und musikalische Gestalt geben? „Ich sprach mit befreundeten Komponistinnen und Musikern über das Thema. Sie alle fanden das interessant und suchten in ihren Kompositionen, ob sich nicht etwas arrangieren ließe oder setzten sich direkt ans Klavier und schrieben eine Musik zum Thema Licht auf“, erklärt Mari Samuelsen. So setzte die polnische Pianistin Hania Rani die Vision eines weißen Raumlichts in ihrer eigens für dieses Album geschaffenen Komposition „La Luce“ um. „Als ich sah, was Hania komponiert hatte, dachte ich an ein Licht, das trotz aller Helligkeit eine düstere Atmosphäre kreiert“, interpretiert Mari Samuelsen das Werk der polnischen Musikerin. Ein Licht auch des Abschiednehmens, der Trauer. Ihm gegenüber steht das kraftvolle „O vis aeternitatis“ der mittelalterlichen Dichterin Hildegard von Bingen. „Es ist das Licht der Urform, allen Beginns, das ich hinter den Zeilen dieses Gedichts spüre“, meint Mari. Ein Licht, das sich zeigt, wenn die Sonne als glühend roter Ball hinter dem Mjøsa untergeht, das aus Vulkanen emporschießt und die zu Tal fließende Lava umspielt.
Ein musikalischer Bogen über Jahrhunderte
Vom Urquell zum Abschiednehmen, von Hildegard von Bingen zu Beyoncé spannt sich der Bogen der 13 Stücke, die auf dem Album zu hören sind. Mit allen Autoren der Stücke stimmte sich Mari Samuelsen ab. „Alle waren vom dem Projekt sehr angetan und mit Freude dabei. Wir haben versucht, die verschiedenen Momente des Lebens in dieser Musik einzufangen, aber auch ganz verschiedene Orte auf dieser Welt, die einfach mit den Mitteln der Musik verbunden werden können. So saß ich eines Tages hier am Ufer und telefonierte mit der irischen Komponistin Hannah Peel. Und sie sagte, es ist doch komisch, wir beide sitzen am Wasser, ich in Irland, du in Norwegen, und könnten eigentlich über das Wasser Signale austauschen.“ So ist es dann ins Werk eingeflossen: „Signals“, eine Reverie für Violine, Streicher und Electronics.
Die bulgarische Komponistin Dobrinka Tabakova steuerte mit „Nocturne“ eine fast sparsame Komposition (Violine und Piano) bei, die Assoziationen zum Licht der Nacht hervorruft. „Es ist ein sehr fragiles, inniges Stück“, sagt Mari.
In Laura Masottos „Sol Levante“ fühlt sich der Zuhörer an die ligurische Küste getragen – nach einem Sommergewitter scheint ein klares Licht vom Himmel, letzte Regentropfen fallen noch auf die Blätter der Macchia.
Und auch der hohe Norden ist vertreten, in der Adaption „Bær“ (Hof) – ein Stück, das die isländische Cellistin, Komponistin und Oscar-Preisträgerin Hildur Guðnadottir für Cello und Streicher geschrieben hatte, ist das eingangs geschilderte geheimnisvolle Licht Islands zu spüren, ein Licht, das Winters vom grauen Meer über vereiste Landschaften in den ebenfalls grauen Himmel reicht, wo im Sommer die grünen Wiesen der Insel Himmel und Meer verbinden, aufgeheitert von einigen roten, blauen oder auch grünen Tupfern einzelner Höfe.
Die Stücke von Peel, Tabakova und Masotto waren ebenso Auftragswerke wie „White Flowers take their Bath“ der Berliner Komponistin Meredi, eine Elegie, die das neue Album einleitet. Das ebenfalls für „Lys“ komponierte „Love abounds in Everything“ der US-amerikanischen Komponistin Clarice Jensen wurde in New York mit dem „American Contemporary Music Ensemble“ eingespielt, dessen Direktorin Jensen auch ist.
„Es war wunderbar, direkten Kontakt mit den Komponistinnen aufzunehmen“, freut sich Mari Samuelsen. „Dass nun eine Platte erschienen ist, auf der ausschließlich Frauen die Musik geschaffen haben, ist dabei eher zufällig geschehen, es freut mich dennoch sehr.“
Dabei war es keineswegs Absicht, vielleicht ein feministisches Album zu schaffen. „Dass in ‚Lys‘ nur Werke von Frauen enthalten sind, ist eher ein Zufall“, erklärt Mari mit Bestimmtheit. „Ich halte nichts von Grenzen oder Boxen, Komponistinnen und Komponisten schreiben Musik, ein Unterschied dabei ist nur: Es handelt sich um gute der schlechten Musik.“ Mari Samuelsen möchte sich auch nicht auf ein bestimmtes Genre festlegen lassen, nur als „klassische“ Violinistin gelten. „Es war eine tolle Idee in der Diskussion mit den Produzenten, auch ein kraftvolles Stück von Beyoncé ins Album aufzunehmen. So schlagen wir den Bogen über fast 900 Jahre Musikgeschichte.“
„Halo“, so verrät Mari schmunzelnd, ist eines ihrer Lieblingsstücke von Beyoncé. „Für mich ist es ein Scheinen, eine Energie, eine Kraft, die zwischen zwei Menschen aufleuchtet.“
Klassik in Popcharts
Mit „Lys“ ist Mari Samuelsen ein rundes, geschlossenes Album gelungen, das von Melancholie bis Fröhlichkeit, von Trauer bis kraftvoller Energie Ausdrücke für verschiedene Formen des Lichts findet. Gleichzeitig kann man die neue Platte auch als Anschluss an das 2019 erschienene Album „Mari“ ansehen, in dem sie seinerzeit das Spannungsfeld zwischen Großstadthektik und ländlicher Ruhe thematisierte.
Wenngleich auch die Aufnahme des neuen Albums – zu großem Teil eingespielt vom Kammerorchester „Scoring Berlin“ unter dem Dirigenten Jonathan Stockhammer – zur sogenannten Neoklassik zählt, vermag es nicht verwundern, dass es auch viele junge Zuhörer finden wird. Immerhin haben Vorgängeralben der Künstlerin bereits die Spitzenplätze der norwegischen Popcharts erreicht.
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