Nivedita, eine Studentin und Bloggerin, deren Mutter aus Polen und deren Vater aus Westbengalen stammen, studiert bei Saraswati an der Uni Düsseldorf postkoloniale Theorie und ist fasziniert von ihrer Professorin. Was die nach der hinduistischen Göttin für Weisheit und Gelehrsamkeit benannten Lehrkraft den Studentinnen und Studenten beibringt, ist eben nicht nur Theorie, sondern identitätsstiftend. Nivedita beginnt durch ihr Studium sich selbst als PoC (person of colour) in einem positiven Sinn zu definieren, als eine Kraft, die fähig ist, Strukturen in einer weißen Gesellschaft zu verändern. Dieses aufstrebende Selbstwertgefühl bekommt massive Risse, als Saraswatis adoptierter Bruder Fotos seiner Schwester an die Presse weiterreicht, auf denen Saraswati als weißes Mädchen zu erkennen ist und nicht als PoC. Sie hieß damals Sarah Vera Thielmann. Offensichtlich hat die Professorin sich operieren lassen und Medikamente geschluckt, die ihre Haut dunkler gefärbt haben. Nivedita fühlt sich betrogen. Andere Studentinnen werfen Saraswati kulturelle Aneignung vor. Zudem habe sie sich eine Professur erschlichen, die nicht für Weiße angedacht war. Es kommt zum Shitstorm, zum öffentlichen Skandal und die Professorin muss erst einmal die Uni verlassen.
Sanyals Roman dreht um Fragen, die Rassismus-Debatte betreffend. Was bedeutet das Konzept race? Ist es legitim, die eigene Herkunft zu wechseln, wenn das beim Geschlecht doch längst machbar ist? Wohin führt Identitätspolitik? Es geht der Autorin dabei nicht um abschließende Antworten, als vielmehr um die Auseinandersetzung, den intellektuellen Austausch. Nicht nur diskutieren Saraswati, ihr Bruder, Nivedita und andere ununterbrochen miteinander, auch die sozialen Medien fließen in Form von Tweets ein. Die Figuren sind so sehr mit ihrem Thema eins, dass es nichts mehr außerhalb gibt. Diese Darstellung unterschiedlicher Denkweisen ist lehrreich, zeigt aber auch, dass alles in Sekunden zum Problem werden kann, wenn einmal das falsche Wort fällt. Denn alles ist Teil eines Spektrums, wo Annäherung in Aneignung umschlagen kann, genauso Hilfe in Manipulation oder Solidarität in Egoismus, obwohl man im Endeffekt nur eine bessere Welt haben will.
Mithu Sanyals Roman ist voller Gewitztheit und Witz. Ihre von Anglizismen durchsetzte Sprache, die sie ihren Figuren einverleibt, der wissenschaftliche Sprechcode, wirkt authentisch, ist humorvoll gebrochen, und lässt einen, in literarisch neu und ungewohnter Weise, schnell in die Geschichte eintauchen. „Identitti“ ist zudem ein sehr engagierter Roman, bei dem man einiges lernt, während man sich gut unterhält.
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