Ja, es gibt solche Tage, an denen sich Schicksale entscheiden und Existenzen aus geordneten Bahnen geworfen werden können. In Timon Karl Kaleytas „Geschichte eines einfachen Mannes“ wird ein derartiger Tag exakt auf den 28. September 1998 datiert. Da nämlich erfährt sein namenlos bleibender Romanheld eine Schmach von derart epischem Ausmaß, dass dessen Dasein fortan unter geänderten Vorzeichen weniger gelebt denn gefristet werden wird. Was nur war geschehen? Nach sechzehn Jahren wurde Helmut Kohl an jenem Septembertag seiner bundesdeutschen Kanzlerschaft beraubt! Außer Kaleytas Ich-Erzähler schien niemandem die Tragweite dieser Katastrophe aufzufallen. Stattdessen faselten alle vom Ende der bleiernen Zeit und von Aufbruch in eine goldene Ära. Dazwischen und zur Gänze vereinzelt sitzt, „zu Tode betrübt und von allen Göttern verlassen“, unser Helmut-Kohl-Adept, der von jetzt auf nachher seinem Status als Musterschüler und Sportskanone verlustig geht.
Als Witzfigur verspottet schwinden seine schulischen Leistungen zusehends, weshalb auch der Plan, nach dem Abitur Medizin zu studieren, gecancelt wird. Stattdessen schreibt er sich für Germanistik und Soziologie ein und taucht in einem „Heer der Mittelmäßigen“ unter. Er, der sich als Krone der Schöpfung fühlt. Doch er bleibt ein konservativer Revoluzzer, der sich „nach Strenge“ verzehrt und „nach Professoren, die Unmenschliches verlangen, nach klaren Hierarchien und hohen Standards“. Hier sollte man auf einen Spaßvogel wie Benjamin von Stuckrad-Barre hinweisen, der Kaleytas Debütroman umwerfend komisch fand. Aber so recht mag man sich dieser Einschätzung nicht anschließen. Zu verdreht wirkt beispielsweise die Sprache, und hier vor allem die Dialoge, die den Verdacht nahelegen, der Autor hätte ein Manuskript aus den 1950er Jahren auf einem Dachboden gefunden und eins zu eins als Buch veröffentlicht. Mit anderen Worten: Hier wird Betulichkeit großgeschrieben! Auf der anderen Seite könnte diese Biederkeit im Ton auf eine Art Reibung verweisen. Und zwar von einem Individuum an jener Zeit, die in der „Geschichte eines einfachen Mannes“ ungefähr abgedeckt wird – späte 1990er bis in die 2010er Jahre hinein. Diese Ära war nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland von einem ausgesprochenen Wellness- bzw. Selbstoptimierungswahn geprägt, der bei Kareytas sehnsüchtig-autoritärem Protagonisten zu einer endlosen Kette an narzisstischen Kränkungen führte. Als Lektüreerfahrung hinterlässt diese Deutung eher einen gespenstischen denn humorigen Eindruck.
thk
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