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Lust zu lesenHand aufs Herz

Lust zu lesen / Hand aufs Herz
Wolf Haas Foto: Gerry Nitsch

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Wegen seiner Formschönheit versetzt der neunte Brenner-Roman von Wolf Haas unseren Autor Thomas Koppenhagen in helle Verzückung.

Nun also ist der Brenner Simon ganz unten auf der Skala angekommen, die fürs gesellschaftliche Abrutschen bis ins komplette Abseits zur Verfügung steht: Er ist Müllmann geworden und beschäftigt sich mit der Abfalltrennung, den ganzen Tag, in Wien. Dass das bisschen Reststolz in ihm noch aufmuckt, sozusagen in den letzten Zuckungen liegend meint, zu den ganz Wichtigen zu gehören – weil jetzt plötzlich sind alle mit Recycling beschäftigt, und Mülltrennung wie auch Altlasten insgesamt das Geschäft der Zukunft – geschenkt! Dann tauchen in allen möglichen Mülltrennungswannen höchst unbotmäßig entsorgte Leichenteile auf. Das rechte Knie zuerst, dann Arme, Kopf und Finger. Nur das Herz bleibt vorerst verschwunden. Unter den Kriminalern, die zum „Mistplatz“ kommen, ist auch der Kopf Alexanders. Dessen Ausbilder war der Brenner bei der Polizei, und seine „Mistler“-Kollegen staunen nicht schlecht, dachten sie doch erst, dass der Kopf den Brenner aus dem Verhörzimmer kennt oder ihn sogar in den Knast gebracht hat. Dass der Brenner in seiner ganz persönlichen Steinzeit-Epoche auch Privatdetektiv gewesen war, führt dazu, dass er der Tochter des mittlerweile identifizierten zerstückelten Toten helfen soll, die Unschuld ihrer todkranken Mutter zu beweisen. Deshalb fährt man zu Roswitha, der neuen Freundin ihres Vaters, dann wieder zurück zum Mistplatz, sitzt hier und steht da herum, redet miteinander oder lässt es bleiben. Man könnte diese Form von Anti-Action auch ganz altmodisch als „Schwofen“ bezeichnen – lässig-entspannt im Hier und Jetzt. Gäbe es da nicht den auktorialen Erzähler, der seine kunstvoll-verschrobenen Schilderungen auch noch mit Kommentaren versieht. Leser der Romane von Wolf Haas kennen diese stilistische Eigentümlichkeit, die er in „Müll“ auf faszinierende Weise perfektioniert hat.

Retter der Armen und Enterbten

Unter den deutschsprachigen Schriftstellern ist Wolf Haas so eine Art Robin Hood – aber Hand aufs Herz, haben wir nicht alle eine Schwäche für die Schwachen, Alten, Ausgezehrten? Dagegen kommen die Großkopferten bei ihm meist schlecht weg – oder, wie in „Müll“, praktisch gar nicht vor. Und siehe: So eine Story funktioniert auch ganz gut ohne Lofts und Werbefuzzis mit Millionenerbschaften in der Hinterhand. Kurz vor Schluss scheint sich der Autor doch noch darauf zu besinnen, dass er einen Krimi verfassen wollte. Wozu dann auch die Einhaltung gewisser Konventionen gehört, wie beispielsweise Verfolgungsjagden. Also rast der Brenner mal mit, mal ohne Begleitung in einem Müllwagen über die Grenze nach Bayern, um das Schlimmste zu verhindern und den wahren Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen. Dass das wiederum nicht so klappt wie in den meisten anderen Kriminalromanen, war zu erwarten. Dennoch freut man sich über dieses irgendwie-dann-doch-Happy-End, und „das Leben ist dann wieder seinen normalen Gang gegangen, der Mist schön in die Wannen verteilt, damit fängt alles an, und damit hört alles auf, ewiger Kreislauf Hilfsausdruck“.

Selten wurde der kapitalistische Verwertungskreislauf derart brutalstmöglich unterhaltsam als Geschichte unter die Leute gebracht. Und weil das so eindrucksvoll ist, packen wir noch eine Schaufel an Lob obendrauf: Denn aktuell dürfte es kaum eine Veröffentlichung geben, die den Erfolg mehr verdient hat als „Müll“, der neue Roman von Wolf Haas.

Wolf Haas<br />
Müll.<br />
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022<br />
288 S., 24,00 Euro
Wolf Haas
Müll.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022
288 S., 24,00 Euro