Nach einer Absage und einer nachgeholten Auflage, während der definitiv weniger los war als sonst, läuft nicht nur der Festivalbetrieb in Cannes wie gehabt – auch die Restaurants, Kneipen, Bäckereien und Imbissläden sind hoffnungslos überlaufen. Kurzum: Die Filmbranche will sich von den letzten beiden desaströsen Jahren erholen – und hat dies auch bitter nötig.
Die Herausforderungen sind dabei zahlreich: Es gilt, den Stau aller Filme, die während fast zwei Jahren nicht in den Kinos anlaufen konnten, nach und nach zu lösen und den Menschen, die innerhalb genau dieser Zeit verlernt haben, ins Kino zu gehen – auf der Couch ist es doch so gemütlich und zudem weitaus günstiger –, wieder zu zeigen, wieso die kollektive Erfahrung im Kino schöner, intensiver, immersiver (man kann nicht kurz auf Pause drücken, um das Fertiggericht aus der Mikrowelle zu holen), mitreißender und ja, etwas ganz anderes ist.
Da ist es durchaus verständlich, dass man in Cannes erst mal daran denkt, die eigenen Wunden zu lecken, und versucht, eine Zukunft für die Filmindustrie aufzubauen. Nichtsdestotrotz gibt es zurzeit andere Krisenherde – und Cannes scheint dieses Jahr mehr denn sonst eine Blase zu sein, in der man sich vor der Wirklichkeit schützt, anstatt sie zu konfrontieren.
Klar, im Programm gibt es hie und da Filme, in denen die Brücke zum Krieg geschlagen wird – man denke vor allem an „Mariupolis 2“ des litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravicius, der nach Mariupol gefahren war, um Bilder des Krieges festzuhalten, und beim Verlassen der Stadt von russischen Soldaten gefangen genommen und getötet wurde.
Auch die Anwesenheit des russischen Regisseurs Kyrill Serebrennikov, dem es nach vielen Jahren Hausarrest und Ausreiseverbot nun endlich gelungen ist, in Cannes anwesend zu sein, ist lobenswert – auch wenn seine Herabstufung vom subversiven Filmemacher zum opportunistischen Kulturschaffenden während der Pressekonferenz dann doch symptomatisch für die Nuancenlosigkeit dieser Epoche ist.
Gleichzeitig gab es vor der Vorführung des neuen „Top Gun“ eine Kunstflugstaffel der französischen Luftwaffe, die von einem Feuerwerk begleitet wurde – der Festivalgänger, der mittlerweile eine Umwelttaxe bezahlt, dürfte sich fragen, wie viel Fettnäpfchen und Geschmacksverirrung zwecks der Selbstdefinition des Festivals als Abfeiern der Filmindustrie – getreu dem Motto „The show must go on“ – eigentlich vertretbar ist.
Diese zwiespältige Haltung zwischen Eskapismus und Wirklichkeitsaufarbeitung – viel mehr als über die Luftwaffe oder das Feuerwerk wurde sich (durchaus verständlicherweise) über ein dysfunktionales Online-Ticketing beschwert – spiegelt sich im aktuellen Wettbewerb, der immerhin das Aushängeschild des Festivals ist, wider.
Die bisher projizierten Filme wirken teilweise angestaubt, einige wie der Eröffnungsfilm „Coupez!“ oder „Les Amandiers“ beschäftigen sich etwas selbstverliebt mit dem eigenen Milieu, andere inszenieren mehr („Les Amandiers“, „Le otto montagne“) oder weniger („Armageddon Time“, „Tchaikowsky’s Wife“) nostalgische Reisen in die Vergangenheit, noch andere beschäftigen sich mit Familie und Freundschaft („Frère et soeur“), anstatt den Blick in die Außenwelt zu wagen.
Klar kann es zurzeit noch kaum Beiträge zum Krieg in der Ukraine geben (dafür ist die russische Invasion zu rezent) – aber das Festival hätte definitiv einen politischeren Wettbewerb gebrauchen können. Die hohe Anzahl an großen Namen, die bereits in Cannes Preise abgesahnt, aber bisher eher enttäuscht haben, tragen da auch eine Verantwortung. Denn Cannes sollte auch ein Festival der Entdeckungen sein, sollte neue Namen promovieren, anstatt bloß den Altbekannten auf die Schulter zu klopfen.
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