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Lust zu lesen / Begleiterscheinungen
Merten Lagatz Memnons Kopf – Abtransport der Ramses-Büste Illustration: aus „Beute – ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe“

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Raubkunst und kein Ende. Thomas Koppenhagen befasst sich erneut mit den kulturgeschichtlich sehr bedeutenden Forschungsprojekten der Historikerin Bénédicte Savoy.

Vor knapp einem Jahr erschien mit „Afrikas Kampf um seine Kunst“ das leserfreundlich aufgearbeitete Ergebnis einer Untersuchung, die der französische Präsident Emmanuel Macron bei Bénédicte Savoy und Felwine Sarr in Auftrag gegeben hatte. Kurz gefasst, ging es dabei um eine Studie zur Geschichte der Diskussion um die Rückführung kolonialer Kunstgüter in deren Ursprungsländer, welche in den 1960er Jahren aufkam und Anfang der 1980er ergebnislos im Sand verlief. Kurze Zeit davor wurde bereits von Savoy u.a. ein voluminöser „Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe“ unter dem Titel „Beute“ veröffentlicht, der die eben erwähnte Diskussion als Teilaspekt einer Problematik kenntlich machte, die geografisch wie zeitlich viel weiter gefasst werden muss. Analog zum Bildatlas publizierte Savoy zusammen mit Isabelle Dolezalek und Robert Skwirblies eine „Anthologie zu Kunstraub und Kulturerbe“, in der teils Jahrhunderte alte Texte zur Thematik zusammengefasst wurden. Denn „die Frage der Restitution geraubter und enteigneter Kulturgüter ist nicht neu, es handelt sich vielmehr um eine Herausforderung, die unweigerlich mit allen Kriegen in der Menschheitsgeschichte und den damit einhergehenden wechselnden Herrschafts- und Besitzverhältnissen verknüpft ist – und über die sich Intellektuelle und Autoren aller Zeiten und Kulturen den Kopf zerbrochen haben“.

Dass sich nicht alle in Skrupel und Selbstzweifel ergaben, belegt ein Zitat des Abenteurers Giovanni Battista Belzoni (1778-1823), der bei einem Beutezug der Briten 1816 in Ägypten half, die Kolossalbüste von Ramses II. aus einer Tempelanlage in Theben fortzuschaffen: „Sowohl Rumpf als auch der Thron lagen dicht neben dem Kopf; das Antlitz war himmelwärts gerichtet und schien mich anzulächeln, wie in Vorfreude darauf, nach England gebracht zu werden.“ Was dann auch geschah. Dem Belzoni-Ausspruch wird im Bildatlas eine schöne Farblithografie gegenübergestellt, die den unglaublich aufwändigen Abtransport der gigantischen Pharaonenbüste zum Inhalt hat. Der Druck erschien in einem Expeditionsbericht, der 1820 in London veröffentlicht wurde. Er ist einer von insgesamt 86 Darstellungen von Kulturaneignung in den unterschiedlichsten Medien (Gemälde, Bücher, Zeitschriften, Plakate, Fotos, Comics etc.), die für den Bildatlas ausgewählt und in einer wunderbar umfassenden, klaren Sprache kommentiert wurden. Insgesamt lässt sich sagen, dass durch diese illustrative Form der Aufbereitung vor allem historischer Publikationen für den Leser folgende Erkenntnis leichter zu verdauen ist: Neben Neugier und Habsucht rückt die Gewalt als zentrales Motiv „des Kulturtransfers und der Wissensvermittlung“ dorthin, wo sie hingehört, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Gewaltexzesse waren keine Ausnahme, die das Zeitalter des Kolonialismus kennzeichnet, sondern die Regel. Akzeptiert man im Folgenden die Gewalt als historische Konstante (die keineswegs in die Zukunft hinein ragen muss), werden geistesgeschichtliche und somit immer auch zivilisatorische Fortschritte wie etwa die Herausbildung eines Bewusstseins für die kulturelle wie politische Bedeutung von Altertümern, sozusagen als deren Begleiterscheinung, umso bedeutsamer.

Merten Lagatz, Bénédicte Savoy, Philippa Sissis: „Beute – Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe“. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2021. 389 S., 38,00 Euro
Merten Lagatz, Bénédicte Savoy, Philippa Sissis: „Beute – Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe“. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2021. 389 S., 38,00 Euro