Am 5. März jährte sich der Geburtstag von Pier Paolo Pasolini zum hundertsten Mal. Dass wir diesem skandalträchtigen Schriftsteller, Filmregisseur, Kritiker und „öffentlichem Intellektuellen“ immer noch gedenken, hat nicht nur mit der Wirkungsmacht seines diffizilen Werkes zu tun, sondern auch mit jenem abscheulichen Verbrechen, dem Pasolini am 2. November 1975 zum Opfer fiel. Wenige Stunden davor gab er dem Journalisten Furio Colombo ein Interview, das, wie etliche weitere, die bislang kaum in deutscher Sprache erhältlich waren, in dem kürzlich erschienen Sammelband „Pier Paolo Pasolini in persona“ enthalten ist. Womöglich entspricht es der menschlichen Natur, in Colombos Fragen und Pasolinis Antworten düstere Vorahnungen oder gar ein Motiv für den Mord aufzuspüren. Einige Sätze, auf die sich Herausgeber Gaetano Biccari auch in seinem Vorwort bezieht, können dahingehend interpretiert werden. Es geht um aktuelle gesellschaftliche Zustände, welche Pasolini als „Tragödie“ bezeichnet, „die sich gerade abspielt“, und die darin bestehe, „dass es keine menschlichen Wesen mehr gibt, es gibt nur mehr komische Maschinen, die aufeinanderprallen“.
Pasolini verstand sich als Marxist und Humanist. Er folgte keiner Parteilinie und landete nicht selten mit seiner „Verunreinigungsarbeit“, worunter er das Mischen möglichst aller Kunstgattungen miteinander verstand, zwischen allen Stühlen. Besonders arg legte er sich mit Vertretern der internationalen Studentenrevolte von 1968 an. So fragte er in einem Gespräch mit Gideon Bachmann 1972 nach Sinn und Zweck der „falschen Revolution der 68er, die sich zwar marxistisch gab, in Wahrheit aber nichts weiter als eine Form schärfster bürgerlicher Selbstkritik war. Die Bourgeoisie hat sich der Jugend bedient, um einige Mythen, die ihr lästig fielen, zu zerstören. Nach diesen kurzen Momenten des Aufbegehrens wird gegenwärtig der hässlichste Teil der Vergangenheit wiederhergestellt.“
Nicht nur Pasolini war davon überzeugt, dass die herrschende Klasse in ihrem Bestreben, einen totalitären Neokapitalismus durchzusetzen, längst schon Koalitionen mit Faschisten und der Mafia eingegangen sei. Ein Großteil der Spekulationen, die bis heute seinen Tod umranken, nährt sich aus der Annahme, dass er einem politischen Attentat zum Opfer fiel, während offizielle Stellen auch nach Abschluss der wiederaufgenommenen Ermittlungen weiterhin von einer Gewalttat im Strichermilieu ausgehen.
Der telegene Pasolini
Gelegentlich finden sich auf YouTube und anderen Medienkanälen im Internet noch flackernde Schwarzweiß- wie Farbaufnahmen, auf denen Pasolini seinen Kritikern Rede und Antwort steht. Ob allein vor der Kamera oder in Gesprächsrunden wirkt er zuweilen, als hätte er sich hinter seiner dunklen Brille verschanzt. Doch der Eindruck täuscht, wie anhand einiger Fernsehauftritte, die als Transkriptionen den Weg ins Buch fanden, nachgeprüft werden kann. Zeile für Zeile kann man nun nachlesen, wie Pasolini bei solchen Anlässen selbst heimtückische, weil als arglose Fragen daherkommende oder gar in Bewunderung verpackte Unterstellungen mit schneidender Schärfe parierte. Ein kluger Kopf, zweifellos, und meist war Pasolini auch rhetorisch seinen Kontrahenten weit überlegen. Zuweilen erinnern die Gespräche an das Hase-und-Igel-Spiel, denn stets war er andernorts wie vom Interviewer vermutet. Ein paar biografische Texte von Pasolini, die kaum bekannt sind, fügen sich nahtlos in das Gesamtbild ein, das „Pier Paolo Pasolini in persona“ abgibt: Wir sehen einen blitzgescheiten, emphatischen, mit allen Wassern gewaschenen Menschen, der uns – man muss das derart betonen – mehr denn je fehlt!
Pier Paolo Pasolini, Gaetano Biccari (Hg.)
„Pier Paolo Pasolini in persona – Gespräche und Selbstzeugnisse“
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2022.
208 S., 22,00 Euro
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