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Krieg in der UkraineNichts birgt so viel sozialen Sprengstoff wie hohe Weizenpreise – und nie waren sie so hoch wie zurzeit 

Krieg in der Ukraine / Nichts birgt so viel sozialen Sprengstoff wie hohe Weizenpreise – und nie waren sie so hoch wie zurzeit 
Ein Mann mit einem Sack Weizenmehl in einem Geschäft in Kigali, Ruanda: UN-Generalsekretär Antonio Guterres schließt „einen Zusammenbruch des globalen Ernährungssystems“ nicht mehr aus  Foto: AFP/Simon Wohlfahrt

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UN-Generalsekretär Antonio Guterres warnte unlängst vor einem heraufziehenden „Hurrikan des Hungers“. Schuld ist Russlands Krieg gegen die Ukraine, der massive Folgen auf die weltweite Getreideversorgung hat. Beide Länder stehen zusammen für ein knappes Drittel der weltweiten Weizenexporte. Besonders arme Länder sind abhängig.

Der Hunger in der Welt droht dramatisch anzusteigen – und nichts birgt eine solche soziale Sprengkraft wie Lebensmittelknappheit. Aus Russland und der Ukraine stammen mehr als 30 Prozent der weltweiten Getreideexporte. Russlands Invasion hat den Schiffsverkehr am Schwarzen Meer unterbrochen, über den in Friedenszeiten der Löwenanteil des Getreidehandels abgewickelt wurde. Zudem machen die Kampfhandlungen in der Ukraine die Frühjahrsbestellung der Felder unmöglich. Die Preise für Weizen sind längst durch die Decke gegangen.

Die Folgen der abrupten Verknappung sind vor allem in den ärmsten Staaten der Welt zu spüren. Die 45 am wenigsten entwickelten Länder der Welt importieren mindestens ein Drittel ihres Weizens aus der Ukraine oder Russland, heißt es von den Vereinten Nationen. Einige Staaten sind noch abhängiger, wie die Grafik auf dieser Seite verdeutlicht.

Historische Höchstpreise

Nach UN-Berechnung haben die globalen Lebensmittelpreise bereits jetzt, nach einem Monat Krieg, den höchsten Stand aller Zeiten erreicht. Die Weltbank und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO befürchten eine deutliche Zunahme von Hungersnöten. Die Zahl der unterernährten Menschen könnte wegen Putins Krieg demnach in diesem und im nächsten Jahr um acht bis 13 Millionen ansteigen. Das US-Institut Center for Global Development, das sich auf globale Entwicklungen spezialisiert hat, geht davon aus, dass die durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten massiven Preiserhöhungen für Lebensmittel, Öl und Gas über 40 Millionen Menschen in extreme Armut stürzen werden.

Russland und die Ukraine zählen zu den Hauptproduzenten und vor allem zu den größten Exporteuren von Weizen weltweit. Russland exportiert um die 30 Millionen Tonnen Weizen pro Jahr, die Ukraine bis zu 25 Millionen Tonnen. Experten zufolge könnten die USA, Indien und Europa – die EU exportiert jährlich etwa 30 Millionen Tonnen Weizen – zwar die Weizenexporte ersetzen. Das würde sich aber erstens nicht maßgeblich auf den Preis auswirken und demnach die sozialen Folgen nicht lindern. Zudem könnte dies bei Sonnenblumenöl und Mais schwierig werden – hier ist die Ukraine der größte beziehungsweise viertgrößte Exporteur der Welt.

Die Fläche für die Frühjahrsaussaat in der Ukraine könnte sich Agrarminister Roman Leschtschenko zufolge in diesem Jahr mehr als halbieren. Statt der ursprünglich erwarteten 15 Millionen Hektar dürfte sie nun bei etwa sieben Millionen Hektar liegen. Dabei werde weniger Mais ausgesät. „Wir haben große Mais-Vorräte“, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. „Wie wir sie später exportieren, ist eine sehr schwierige Frage.“

Laut Angaben der Seefahrtsbehörde von Panama blockierten die Russen zuletzt hunderte Frachter im Schwarzen Meer. Die westlichen Schifffahrtsstrecken sollen von der russischen Marine vermint worden sein. Russland behauptet, die Minen seien von ukrainischer Seite gelegt worden. Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation der Vereinten Nationen (IMO) fordert aus dem Grund sogenannte blaue Korridore, damit die Schiffe das Schwarze Meer verlassen können, ohne angegriffen zu werden oder auf eine Mine zu laufen. Noch bis kurz vor Beginn der russischen Invasion exportierte die Ukraine der Ratingagentur S&P zufolge täglich fast 200.000 Tonnen Mais, Weizen und Gerste.

Sozialer Sprengstoff

Die Ukraine versuchte zuletzt, den Getreideexport über den Schienengüterverkehr nach Europa zu organisieren. Doch vor dem Krieg exportierte die Ukraine 98 Prozent ihres Getreides über jene Häfen, die mittlerweile von russischen Streitkräften unter täglichem Beschuss stehen. Diese Menge könne unmöglich per Zug exportiert werden, sagte der Vorsitzende des ukrainischen Getreide-Verbandes, Mykola Horbatschjow, der Nachrichtenagentur Reuters. Nur über die russischen Häfen wird Getreide aus Russland ausgeführt, allerdings deutlich eingeschränkt. 

Der Rest der Welt reagiert unterschiedlich auf die neuen Gegebenheiten. Länder wie Argentinien und Indien wollen ihre Exportmengen erhöhen und von den gestiegenen Preisen profitieren. In der Europäischen Union sieht es nicht viel anders aus. Die EU-Kommission hat am Mittwoch die Weichen für eine Krisenproduktion in der Landwirtschaft gestellt. Bauern sollen demnach in der EU künftig für Umweltschutz vorgesehene Ackerflächen nutzen dürfen, um dort Nahrungs- und Futtermittel anzubauen. Zudem sollen Bäuerinnen und Bauern in der EU mit knapp 500 Millionen Euro unterstützt werden. Auch der Einsatz von Schädlingsbekämpfern soll nicht pauschal reduziert werden.

Die potenziellen zusätzlichen Erträge auf den landwirtschaftlichen Flächen der EU seien global gesehen minimal, heißt es von der Umweltorganisation Greenpeace. Mehr Effekt habe es, wenn weniger Flächen für die Futter- und mehr für die Lebensmittelproduktion genutzt würden. Nach Angaben von Greenpeace werden 71 Prozent der Agrarnutzfläche in der EU dazu verwendet, Tiere zu füttern, und das längst nicht nur in Form von Weideflächen. Auf mehr als der Hälfte des Ackerlandes in der EU werde Nahrung für Tiere angebaut, hieß es. Das World Food Programme der Vereinten Nationen hat die Staaten bereits dazu aufgerufen, sofort zusätzliche Mittel bereitzustellen.

Lehren aus der Vergangenheit

Ägypten, als einer der führenden Weizenimporteure, hat bereits einen Einheitspreis für nicht subventioniertes Brot festgelegt, nachdem die Brotpreise in letzter Zeit stark gestiegen waren. Ägyptens Präsident Abdel Fatah El-Sisi kann sich wohl nur zu gut an das Ende seines Vorvorgängers erinnern. Ein um 40 Prozent gestiegener Brotpreis läutete vor mehr als zehn Jahren das Ende der knapp 30-jährigen Herrschaft von Husni Mubarak an. Andere große Importeure wie Jemen, Bangladesch, Pakistan, Sudan und Nigeria sind UN-Angaben zufolge zum Teil bereits stark von Ernährungsunsicherheit betroffen.

Die jetzigen Preise übertreffen bereits die Spitzen in den Jahren 2007 und 2010. Nach einer Untersuchung der Weltbank führten die hohen Preise 2007 dazu, dass 155 Millionen Menschen in extreme Armut gerieten. Bei den Preisspitzen 2010 sanken 44 Millionen Menschen in extreme Armut ab. Hunger und explodierende Nahrungsmittelpreise sind die Hauptkomponenten für sozialen Sprengstoff. Auch dem 2011 beginnenden Arabischen Frühling ging damals eine Weizenknappheit voraus. Blutige Revolten, der syrische Bürgerkrieg und Massenflucht waren die Folgen. Sie sind jetzt noch zu spüren. Auch in Europa. (Mit Material aus den Agenturen)