„Ich habe es satt“ oder „Ich will wieder ein normales Leben führen“ sind zwei Sätze, die man in letzter Zeit besonders oft zu hören bekommt. Daran knüpft der Sprecher üblicherweise die Forderung, die Corona-Maßnahmen sollen endlich zurückgenommen werden, nebst einem Fluch auf die Regierung und die Lügenpresse. Das Virus lässt sich allerdings nicht von unseren Gemütsregungen beeinflussen, und wäre jedermann geimpft, gäbe es auch keine Rechtfertigungen mehr für die Einschränkungen. Viele Menschen wünschen sich ihre Freiheit zurück. Doch welche Freiheit? Sorglos nach Malle zu fliegen? Wer soziale Rechte in Anspruch nimmt, sollte auch seine sozialen Pflichten nicht vergessen.
Satt könnte man auch die Tatsache haben, dass sich das Coronavirus mittlerweile so in das Tagesgeschehen eingeflochten hat, dass andere Gesundheitsthemen es schwer haben, die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen (mea culpa!), obwohl sie es durchaus verdient hätten. Im Nachfolgenden drei Beispiele von Krankheiten, die es wegen Corona noch schwerer hatten, in das Licht der Öffentlichkeit zu gelangen, oder deswegen vielleicht nicht so wahrgenommen werden, wie sie sollten.
Den meisten wäre wohl auch ohne Corona entgangen, dass heute der Welttag der Stotterer ist. Zugegeben, ein etwas kurioser Tag, aber es ist eine Krankheit, die so selten gar nicht ist: In Deutschland sind z.B. 800.000 Menschen davon betroffen. Da es zahlreiche Vorurteile gegenüber der Krankheit gibt, riefen 1998 mehrere Organisationen den Welttag ins Leben. In normalen Zeiten wäre es den Organisationen vielleicht leichter gefallen, ihre Botschaft zu vermitteln. Nun gut, Stottern ist keine Krankheit, die tödlich verläuft.
Depressionen hingegen können das sehr wohl, wenn sie z.B. zum Suizid führen: Am 6. und 7. Oktober fanden die 12. Nationalen Suizidpräventionstage statt, die dieses Jahr ebenfalls im Schatten von Corona gedeihen mussten. Fachleute gehen davon aus, dass von 50 Todesfällen einer auf Suizid zurückzuführen ist. Im Januar dieses Jahres ging in einer Parlamentsdebatte von 70 bis 80 Suiziden jährlich die Rede. Die Zahl der Selbstmordversuche soll sogar zehn- bis 20-mal höher liegen. In den seltensten Fällen ist der Freitod der bessere Weg, vielleicht für unheilbar Kranke. Sind die Schmerzen zu groß, ist der Wunsch nach Erlösung verständlich. Aber auch Todkranke klammern sich manchmal trotz ihrer Schmerzen an jeden Strohhalm und kämpfen bis zum Schluss. So oder so gebührt dem Thema mehr Aufmerksamkeit.
Drittes Beispiel ist die herkömmliche, saisonale Grippe, die ebenfalls aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden scheint: Dank der Corona-Maßnahmen und eines Lockdowns kam es in vielen Ländern im vorigen Winter zu keiner Grippewelle. Experten befürchten allerdings, dass uns jetzt eine besonders starke Grippewelle bevorsteht. Auch die Influenza kann noch tödlich enden, eine Tatsache, die hoffentlich nicht vergessen wurde.
Gesundheitspolitik beschränkt sich nicht auf Corona-Fragen und -Probleme. Es gibt zahlreiche Krankheiten, die tagtäglich ihre Opfer fordern, die aber nicht mehr die Aufmerksamkeit genießen, die ihnen zukommen sollte.
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