„Green light!“, verkündet die niedliche Mädchenstimme und die Teilnehmer setzen sich wieder in Bewegung. Manche sprinten auf die Ziellinie los. Andere tasten sich vorsichtig voran, die Augen gebannt auf eine große Roboter-Puppe gerichtet, die mit dem Rücken zu den Spielern an einer Baum-Attrappe lehnt. Vielen von ihnen steht der Schock regelrecht ins Gesicht geschrieben.
„Red light!“, verkündet nun die Puppe und dreht den Kopf langsam in Richtung Spieler. Viele Teilnehmer erstarren. Ein junger Mann schafft es jedoch nicht, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Nur kurz zucken die Schultern, seine Gesichtszüge entgleiten. Dann ertönt ein Schuss und der Spieler geht blutig zu Boden. „Green light!“, ruft die verspielte Stimme und die restlichen Teilnehmer setzen sich wieder in Bewegung.
Die Szene stammt aus dem Survival-Thriller „Squid Game“, der auf Netflix sämtliche Rekorde bricht. 132 Millionen Accounts haben sich seit Mitte September mindestens zwei Minuten der ersten Folge angesehen. Die meisten Zuschauer seien auch geblieben, wie Netflix dem Finanznachrichtendienst „Bloomberg“ verrät. Rund 1,4 Milliarden Stunden „Squid Game“ seien bereits gestreamt worden. Ein absoluter Rekord, die dem Streaming-Anbieter rund 900 Millionen Dollar einbringen wird.
Nach vier Wochen ist die Serie schon fester Bestandteil der weltweiten Popkultur. In Asien konkurrieren Themenrestaurants um die Gunst der Kunden, Hotels werben mit Zimmern im Gefangenenlager-Stil. Rot-pinke Overalls und schwarze Schutzmasken sind indessen in westlichen Ländern im Hinblick auf Halloween ein absoluter Verkaufsschlager.
Während die meisten User den südkoreanischen Thriller feiern, werden langsam auch kritische Stimmen laut. Denn: In der Serie erhalten 456 Menschen mit argen Geldproblemen die Möglichkeit, knapp 30 Millionen Euro zu gewinnen. Dafür müssen sie an sechs Kinderspielen teilnehmen – wie etwa Tauziehen, Figuren aus Keksen brechen, Murmeln erspielen oder innerhalb von fünf Minuten beim eingangs erwähnten „Red light, green light“ eine Ziellinie überqueren. Harmlos sind die Kinderspiele aber nur auf den ersten Blick: Wer sich einen Fehler erlaubt, wird umgebracht.
Fragwürdige Inhalte nehmen überhand
Auch in den Luxemburger Ablegern der sozialen Netzwerke diskutieren Nutzer rege über Inhalt, Teilnehmer und Gewinnchancen. In der Öffentlichkeit aber erregen bestimmte Spiele durchaus die Gemüter. Auch Kindertagesstätten haben sich inzwischen öffentlich zu Wort gemeldet: Auf Facebook warnen Erzieher die Eltern ihrer Schützlinge vor dem Konsum von „Squid Game“.
Denn: Immer mehr Kinder versuchen bestimmten Spielen während der Pausen nachzueifern. „Dass Kinder sich in ihrer Freizeitgestaltung an bekannten Figuren aus Film, TV und Videospielen orientieren, ist normal“, sagt eine Erzieherin aus dem Norden des Landes. „Leider mussten wir aber feststellen, dass fragwürdige Inhalte aus Serien wie ,Squid Game› immer mehr überhandnehmen.“ Ähnlich sieht es der Direktionsbeauftragte einer Kindestagesstätte im Süden des Landes: „Wir werden immer öfter mit Situationen konfrontiert, in denen Kinder sich beim Spielen an Inhalten orientieren, die nicht für sie gedacht sind“, so der junge Mann.
Bei seinen Schützlingen sei „Red light, green light“ sehr beliebt. „Meist tun die Kinder nur so, als gingen sie erschossen zu Boden. Manchmal aber werden Teilnehmer, die sich bei rotem Licht noch bewegen, von anderen Kindern mit richtigen Schlägen bestraft“, stellt der Erzieher fest. Den Ernst der Lage erkennen die meisten Kinder nicht: „Sie finden das gar nicht schlimm, was auch der Produktion der Serie geschuldet ist. Auch brutale Szenen werden so verharmlost, dass es jungen Zuschauern schwerfällt, zwischen Wirklichkeit und Unterhaltung zu unterscheiden.“
Auch seien Kinder im Hinblick auf Halloween mit der Bitte an die Erzieher herangetreten, sich wie die Wärter in „Squid Game“ verkleiden zu dürfen – mit rot-pinken Overalls und schwarzen Schutzmasken, wie man sie aus Fechtduellen kennt. „Außerdem wollen die Kinder Kekse aus der Serie backen“, so der Erzieher. Tatsächlich werden die Teilnehmer in einer Folge dazu aufgefordert, mithilfe einer Nadel geometrische Figuren aus Zuckerkeksen zu trennen. Wer die Form bricht, wird auf der Stelle getötet.
Fortnite und The Purge
„Squid Game“ sei nicht das einzige Problem: „Fortnite ist ein weiteres Beispiel“, meint die junge Erzieherin aus dem Norden. Beim äußerst populären Online-Shooter landen die Teilnehmer auf einer Insel, wo sie sich mit Ausrüstung und Waffen eindecken, um Mitspieler zu eliminieren. Es gewinnt die Person, die als letzte übrig bleibt. „Das Problem ist vor allem die comicartige Darstellung“, so die junge Frau. „Die Gewalttaten werden verharmlost und Kinder verlieren den Bezug zur Realität.“
Im Süden des Landes bewegen indessen auch Filme aus der „Purge“-Reihe die Gemüter. Im Mittelpunkt der US-amerikanischen Hollywood-Produktion steht eine bestimmte Nacht des Jahres, in der zwölf Stunden lang sämtliche Verbrechen in den Vereinigten Staaten der nahen Zukunft straffrei ausgehen – inklusive Mord. „The Purge“ – die Säuberung – heißt das Phänomen, von dem die Filmreihe ihren Namen erbt.
„Uns fragen die Kinder, wann diese Säuberungen in Luxemburg stattfinden und wie sie sich dann benehmen sollen“, erklärt der Erzieher. Daraufhin habe man Schwierigkeiten gehabt, den Kindern zu vermitteln, dass es sich nur um einen Film handelt. Den Betroffenen fällt es immer schwerer, Fiktion von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Dies sei denn auch ein Grund dafür, weshalb die Kindertagesstätte das Phänomen nun auf Facebook angesprochen habe.
„Ich kann Eltern nicht vorschreiben, was sich ihre Kinder anschauen dürfen“, betont der Verantwortliche. „Squid Game“ habe ihn jedoch zum Handeln bewegt. „Viele Kinder besitzen Smartphone, Tablet oder TV im eigenen Zimmer. Allerdings wissen manche Eltern nicht, was sich ihre Sprösslinge reinziehen, wenn sie abends im Wohnzimmer hocken.“ Mit dem Beitrag auf Facebook wolle man die Betroffenen dafür sensibilisieren, künftig ein Auge auf die Inhalte zu werfen, die sich ihre Kinder ansehen. „Nicht umsonst werden Medieninhalte mit Altersangaben versehen“, unterstreicht der Direktionsbeauftragte.
„Ein absolutes No-Go“
Dem stimmt auch Gilbert Pregno zu. „Ich kann es nur begrüßen, dass die Erzieher die Eltern auf das Benehmen der Kinder aufmerksam machen wollen“, sagt der Psychologe. Es sei Pflicht und Aufgabe des Personals, bei derartigen Beobachtungen die Eltern einzuschalten und – falls nötig – auch aufzuklären. Sicherheit spiele nämlich eine wichtige Rolle in der Frühentwicklung eines Kindes. In einem stabilen Umfeld mit familiären Beziehungspersonen fühle sich der Nachwuchs am wohlsten, was auch der Entwicklung zugutekommt.
„Pauschal ausgedrückt sehen wir immer mehr Heranwachsende, die in ihrer frühen Kindheit Schaden erleiden, weil manche Eltern der Erziehung keine Priorität mehr einräumen“, unterstreicht Pregno. Vielmehr setzen sie mit TV oder Tablets auf falsche „sekundäre Miterzieher“. Er sehe oft Kleinkinder, die beim Shoppen von Eltern mit Smartphones abgelenkt werden. „Bei Kindern unter drei Jahren aber kann ein Tablet großen Schaden anrichten, weil es das Kind zu einer Passivität verleitet und in eine Art Trance versetzt.“ Es fehle die stimulierende Interaktion zu einer Beziehungsperson.
Allerdings seien Filme oder Serien mit fragwürdigen Inhalten auch für ältere Kinder ein „No-Go“, so der Psychologe. „Kleine Kinder können Unterhaltung nicht von der Wirklichkeit unterscheiden. Für sie sind Situationen aus Videospielen oder Filmen ganz real.“ Dies gelte auch für Serien wie „Squid Game“: „Kinder werden Reizen ausgesetzt, die sie nicht filtern können. Noch besitzen sie nicht die nötige Reife, um erlebte Eindrücke einordnen zu können.“ Deshalb sollten Eltern immer auf den Konsum ihrer Kinder achten. Denn: „Inhalte wie ,Squid Game’ sollte man kleinen Kindern auf jeden Fall vorenthalten!“
Seufz, das haben Sie uns doch schon damals bei den Tamagotchis verklickern wollen.