Sex sells – und ist überall. In der Werbung, in der (Pop-)Kultur, im Alltag. Und doch gibt es Menschen, die nichts damit anfangen können. Das „A“ im Begriff LGBTQIA+ kann für agender, aromantisch oder asexuell stehen. Letzteres beschreibt Menschen, die keine sexuelle Anziehung gegenüber anderen Personen verspüren. Mit Zölibat oder einer bewussten Entscheidung zur Enthaltsamkeit hat das nichts zu tun. „Für mich persönlich ist Asexualität einfach das Nicht-Interesse an sexuellen Tätigkeiten, sei es Geschlechtsverkehr, Petting oder etwas in diese Richtung“, sagt Gina, 20 Jahre alt und asexuell (auf Englisch auch als „ace“ bezeichnet).
Aromantisch (auf Englisch „aro“ abgekürzt) hingegen bezieht sich auf die Unfähigkeit, romantische Anziehung zu verspüren. Entgegen gängiger Vorurteile bedeutet dies nicht, dass aromantische Personen gefühllos seien. Sie können Liebe unter anderen Formen erleben, innerhalb von sogenannten „queerplatonic relationships“ zum Beispiel. Asexuell und aromantisch sind keine Synonyme: Obwohl es Personen gibt, auf die beides zutrifft, handelt es sich um zwei unterschiedliche Orientierungen.
Gina ist asexuell und biromantisch. Letzteres bedeutet, dass sowohl eine Beziehung mit einem Mann als auch mit einer Frau für sie infrage kommt. Dass sie asexuell ist, weiß sie, seitdem sie 18 ist. „Unterbewusst gemerkt habe ich das bei meiner ersten Beziehung, als ich circa 14 Jahre alt war.“ Sie wusste aber bereits vorher, dass sie an Frauen und Männern interessiert ist. Eine Beziehung mit einer anderen asexuellen Person würde Gina bevorzugen, auch wenn sie diese Erfahrung noch nicht gemacht hat. „Ansonsten könnte dies ziemlich schnell zum Streit führen, selbst wenn es vorher kommuniziert worden ist.“ Gegen Küssen habe sie nichts einzuwenden – „aber ich habe auch Freunde, die das nicht möchten“.
Bei Vanessa* (29) ist dies der Fall. Menschlichen Kontakt hat sie noch nie gemocht, sagt sie. Bei ihrem ersten Freund war das nicht anders. „Ich habe ihn wirklich geliebt. Aber Küssen und Umarmungen haben sich auf eine bestimmte Art ekelhaft angefühlt. Auch mit meinem letzten Partner, den ich wirklich über alles geliebt habe, wollte ich nicht intim werden. Da habe ich mir gedacht: Hier stimmt etwas nicht.“
Nach wie vor würden Außenstehende meinen, diese Abneigung gegenüber Intimität hätte mit einer psychischen Krankheit zu tun. Oder Vanessa sei gar nicht asexuell. Sie aber sagt: „Ich kann mich in eine Person verlieben. Doch sobald es um Küssen und intime Kontakte geht, sträubt sich mein Körper dagegen und sagt mir: Nein, das will ich nicht.“ Diese Abneigung hat die 29-Jährige bereits als Kleinkind verspürt.
„Bei meinem ersten Mal bekam ich einen Lachanfall“
Bedeutet asexuell denn, überhaupt keinen Geschlechtsverkehr zu haben? Bei manchen schon, bei anderen nicht. Asexualität ist ein breites Spektrum, das wiederum in weitere Begriffe unterteilt ist. Es reicht von Personen, die selten, in sehr niedrigem Maße oder nur unter bestimmten Bedingungen sexuelle Anziehung verspüren (graysexuell) bis hin zu solchen, die eine Abneigung oder einen Ekel gegenüber sexuellen Tätigkeiten empfinden (apothisexuell). Demisexuelle Menschen hingegen können körperliche Anziehung nur dann verspüren, wenn eine enge Bindung zwischen ihnen und ihrem Partner besteht. Dies ist keine bewusste Wahl, sondern eine Grundvoraussetzung, damit überhaupt sexuelles Verlangen aufkommt.
„Ich muss eine Person kennenlernen. Das braucht seine Zeit“, sagt Anne*. Sie ist Ende 50 und bezeichnet sich selbst als demisexuell. Für sie kam dieses Bewusstsein erst vor kurzer Zeit. Als Begriffe aus dem LGBT+-Bereich wie pansexuell und Polyamorie (Liebe zwischen mehr als zwei Personen, Anm. d. Red.) immer öfter aufkamen, wurde die Luxemburgerin neugierig – und bei den Begriffen „demisexuell“ und „asexuell“ machte es irgendwann „klick“. Sie habe schon immer das Gefühl gehabt, anders zu sein als die meisten. „Als ich jung war und Altersgenossen beispielsweise für Filmschauspieler schwärmten, konnte ich das nie nachvollziehen. Ich habe diese Anziehung einfach nie verspürt.“
Ihr erstes Mal hatte Anne mit 18 Jahren. Sie wollte es „mal versuchen, um nicht mehr Jungfrau zu sein“. Dabei bekam sie einen Lachanfall. „Im Endeffekt tat es mir leid für den Mann, da er sich so viel Mühe gegeben hatte. Aber ich konnte nicht anders, als loszulachen – so banal und langweilig fand ich es.“ Vor einigen Jahren hat sie es dann auch mit einem One-Night-Stand versucht. „Mit einem schönen Mann“, wie sie sagt. Aber wieder war kein sexuelles Verlangen da. Sie kann das Erlebte nur mit einem Wort beschreiben: „Witzig.“
Allerdings hat Anne auch das Gegenteil erlebt. „Mit einem Partner hatte ich zwei- bis dreimal am Tag Geschlechtsverkehr. Aber das war für mich etwas völlig anderes. Auf emotionaler Ebene hat es einfach zu 100 Prozent gepasst.“
Keine Störung, sondern eine sexuelle Orientierung
Auch Linden identifiziert sich mit dem Begriff „demisexuell“. „Ich kann Personen durchaus attraktiv oder optisch anziehend finden, aber empfinde kein sexuelles Verlangen wie die meisten anderen Menschen“, sagt der 31-Jährige. „Demisexuell ist wohl das Wort, das dem, was ich empfinde, am nächsten kommt. Eine emotionale und romantische Verbindung kommt bei mir an erster Stelle und darauf kann dann auch eine physische Anziehung folgen. Ich habe durchaus ein physisches Verlangen, allerdings sehe ich es mehr als eine Aufgabe an – als etwas, das halt erledigt werden muss und ich hinter mir haben will. Wenn ich allerdings romantische Gefühle für jemanden verspüre, dann empfinde ich schon Lust, denn ich möchte diese Person glücklich machen.“
Seit sechs Jahren ist Linden in keinerlei Beziehung. Vor acht Jahren stieß er auf ein Video über verschiedene sexuelle Orientierungen. „Als dann die Begriffe ’graysexuell’, ’asexuell’ und ’demisexuell’ aufkamen, wurde mir klar: Das bin ja ich!“ Zu diesem Zeitpunkt hatte er mehrere Beziehungen hinter sich, darunter eine Online-Beziehung mit einer Frau aus den USA. „Wir einigten uns darauf, dass wir beide mit anderen Personen Geschlechtsverkehr haben konnten, solange wir darüber kommunizierten“, erzählt Linden. „Ich wusste, dass sie sexuell viel aktiver war als ich.“
Er selber hat es dann auch probiert. Hatte zwei Dates mit anderen Frauen. Das war allerdings nichts für ihn. „Darüber zu sprechen, war kein Problem, aber als es dann so weit war, verspürte ich absolut keine Lust mehr“, lautet sein Fazit. Sex ohne emotionale Verbindung sieht der 31-Jährige als völlig belanglos an. „Wie kann ich Spaß daran haben, wenn ich mich der Person nicht wirklich verbunden fühle?“
Ein romantischer Partner muss sich nicht zwingend im asexuellen Spektrum befinden. „Wenn man unterschiedliche Bedürfnisse hat, kann man trotzdem einen Mittelweg finden. Das Wichtigste in einer Beziehung sind Vertrauen und Kommunikation.“ Mit einer aromantischen Person zusammen zu sein, stellt er sich jedoch als schwierig vor.
„Dir muss es nur mal jemand so richtig besorgen“
Die Reaktionen aus dem Umfeld sind unterschiedlich. Viele Menschen sind sich nach wie vor nicht bewusst, dass Asexualität mitsamt seinen vielen Facetten überhaupt existiert. „Ich gerate immer ein bisschen in Erklärungsnot“, sagt Anne. „Manche Menschen denken, dass ich schlichtweg Angst vor ihnen habe. Ich hatte jetzt seit zwei Jahren keinerlei Geschlechtsverkehr mehr. Öfters werde ich gefragt, wie es denn sein könne, dass ich alleine lebe, obwohl ich nett sei, gut aussähe usw.“ Darauf hat Anne eine klare Antwort: „Ich bin single, weil ich es kann!“ Und fügt hinzu: „Wenn mir irgendetwas fehlen würde, würde ich es mir schon holen.“
Lindens Freundeskreis geht positiv mit dem Thema um. „In meiner Familie wird jedoch selten über LGBT+-Themen gesprochen. Sie ist einfach der Ansicht, ich hätte noch nicht die richtige Partnerin gefunden“, sagt der 31-Jährige. Diskriminierung hat er als demisexueller Mensch noch nicht erlebt – „eigentlich habe ich mehr negative Kommentare darüber bekommen, dass ich ein Feminist bin, was wohl viel über die Gesellschaft aussagt, in der wir leben“.
Auch Gina geht sehr offen mit ihrer sexuellen Orientierung um. „Alle wissen darüber Bescheid und akzeptieren mich so, wie ich bin. Es gab aber auch schon Personen, hauptsächlich Männer, die gesagt haben, ich bräuchte nur mal jemanden, der es mir – ich zitiere – ’richtig besorgt’. Solche Kommentare gibt es leider bei jeder Sexualität. Jeder von uns muss sich auf irgendeine Art damit herumschlagen.“
Häufig missverstanden
Eine Anlaufstelle, Gruppen oder Stammtische für Personen aus dem asexuellen oder aromantischen Spektrum gibt es in Luxemburg nicht. Vanessa tauscht sich mit einer Freundin, die ebenfalls asexuell ist, über das Thema aus, hat aber ansonsten keine Kontakte mit Gleichgesinnten. Allgemein wird nicht viel über diesen Bereich gesprochen, finden alle unsere Gesprächspartner – trotz Pride Month und eines wachsenden Bewusstseins in der Gesellschaft für LGBT+-Themen. „Doch wir existieren auch“, sagt Gina, deren Freundeskreis hauptsächlich aus Leuten besteht, die ebenfalls in der LGBT+-Community vertreten sind.
Gehören asexuelle und aromantische Menschen zur LGBT+-Community? Wenn es nach manchen Kommentaren in den sozialen Medien ginge, wäre dies nicht der Fall. „Ich kann durchaus verstehen, woher dieses Misstrauen kommt“, sagt Linden. „Homosexuelle mussten für das Recht, zu lieben, kämpfen. Transgender-Menschen wurden ermordet, nur weil sie existieren. Das haben Asexuelle und viele Bisexuelle nicht erlebt. Ich kann also nachvollziehen, woher dieses Misstrauen gegenüber Personen kommt, die mit in die Community eingebunden werden wollen, aber eigentlich nicht viel anders als Heterosexuelle sind. Ich verstehe also beide Seiten.“ Auf die Frage, ob er sich selber als Teil der LGBT+-Community sehen würde, antwortet Linden mit „Ja“.
Gina meint dazu: „Meiner Ansicht nach gehört jeder zur LGBTQ+-Community, der nicht ausschließlich hetero ist. Was nicht bedeutet, das wir Heteros ausgrenzen würden – das habe ich auch schon einmal lesen müssen. Ich verstehe, woher der Gedanke kommt, dass asexuelle und heteroromantische Menschen nicht dazugehören würden, finde es aber eher schwachsinnig und unfair.“
Für Vanessa ist dieser Aspekt eigentlich nicht so wichtig. „Ob man jetzt irgendwo dazugehört, darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch keine Gedanken gemacht. Ich finde einfach, jede Sexualität soll akzeptiert werden.“
* Name von der Redaktion geändert
Der Okzident hat eigentlich keine Kultur mehr, ausser der Anbetung des Egos. Wir riskieren uns, ohne fremde Hilfe, demographisch abzuschaffen.