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Lust zu lesenHeilige, Haare, Datumsstempel

Lust zu lesen / Heilige, Haare, Datumsstempel

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Das neue Buch von Nick Cave ist kein weiterer Roman, auch keine Ansammlung von Songtexten, sondern eine Einladung zu einem Gang durch ein Privatmuseum, dessen Vitrinen mit abfotografierten Kunstwerken, Faksimiles von handschriftlichen Songtexten, Collagen und Malereien gefüllt sind. Es ist das Material, aus dem das offizielle Werk sich herauskristallisierte, das unterstützende System, das ungeordnet wirkt, aber ohne das kein Song entsteht.

Cave selbst hat darüber hinaus fünf sehr kurze Texte unter der Überschrift „Zerborstene Geschichte“ beigesteuert, die das Thema Identitätsfindung in typischer Cave-Manier umreißen bis verdunkeln.

Der hierauf folgende längere Essay ist eine Einführung in den religiösen Kosmos des Sängers der „Bad Seeds“ samt Engelskunde aus der Feder der amerikanischen Schriftstellerin Darcey Steinke. Obwohl ihr Ansatz, spirituelle Momente in den Songs des australischen Musikers in einen globalen Kontext zu setzen, durchaus interessant anmutet, schießt der Essay etwas übers Ziel hinaus. Steinke zitiert wild alles herbei, was sie zum Thema finden konnte, von Karl Ove Knausgård und Hildegard von Bingen, von Philosophen, Musikerkollegen, Wissenschaftlern bis zu Roland Barthes und dem Tibetanischen Totenbuch, ohne dass daraus abzuleiten wäre, was dieser ausschweifende Überbau wirklich mit Nick Caves Arbeit zu tun hätte, außer, dass auch er gerne mit christlichem Vokabular operiert und sich seine Texte in der Schwebe zwischen menschlicher Ekstase und spirituell durchfütterter Sinnsuche verorten lassen.

Einen tieferen Einblick in die Person „Cave“ bieten dafür die aufschlussreichen Kommentare zu den Abbildungen im Buch, die vorneweg eine skizzenhafte Biografie des Musikers zeichnen. Cave, Sohn einer Schulbibliothekarin und eines literaturaffinen Vaters, wollte erst Maler werden, fiel aber im zweiten Jahr auf der Kunstschule durch. Mit „The Boys Next Door“ startete er mit Freunden seine erste Band, die sich in „The Birthday Party“ umbenannte, als sie 1980 nach London zog. Nachdem die Gruppe auseinandergebrochen war, Cave ab und an mal im Heroinrausch Bilder mit dem eigenen Blut malte, richtete er sich in Berlin ein, kaufte auf Flohmärkten allerlei Zeug, das ihn berührte, Heiligenbilder, Schachteln mit Haarlocken, denen er einen Stempel mit Datum aufdrückte. Cave sagt dazu: „eine recht ansprechende Kombination von Dingen, die ich mag …“

Diese augenzwinkernde Ironie, das Verspielte unter der Geste des Predigers, das Cave bis zur Perfektion zelebriert, aber auch das Kaputte, die Selbstzerstörung als Sinngebung, als Einschnitt, das Leben zu fühlen, werden durch die abgelichteten Artefakte und die dazugehörigen Erklärungsnotate in ähnlich gekonnter Art und Weise aufbereitet, wie das in den Songtexten geschieht. Nur nicht so geschliffen. Insofern ist „Stranger than Kindness“ ein Pendant für die Cave-Fans, die sich nicht damit begnügen möchten, die Anlage aufzudrehen, sondern dem Kopf hinter den Texten näherkommen wollen. Ein merkwürdig liebenswerter Chaoskatalog. GuH

Nick Cave

Stranger than Kindness. Kiepenheuer und Witsch Verlag, 2021. 276 S., 29 €