Dass der unter dem Namen Andrew Warhola 1928 in Pittsburgh geborene Spross osteuropäischer Einwanderer als die neben Pablo Picasso wohl bedeutendste Künstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts gilt, erwähnt der amerikanische Autor Blake Gopnik zum Ende seines über 1.200 Seiten starken Buches wie eine Art summa summarum. An der Behauptung gibt es eigentlich nichts zu zweifeln. Aber gut, vielleicht muss nachgewachsenen Generationen noch einmal eingeschärft werden, um wen es sich bei dieser schrägen, auf Fotos so seltsam verhuscht unter silbrig-grauer Perücke dreinblickenden Gestalt gehandelt haben mag. Das eigentliche Faszinosum ist, wie es überhaupt zu diesem Bedeutungszuwachs kam. Diese Frage begleitet die ganze Zeit die wahrlich ausufernde Erzählung über das wendungsreiche Leben des Pop-Art-Gründers, Filme- und Theatermachers, Verlegers, Velvet-Underground-Mentors und Prominenten-Fuzzis.
In den angelsächsischen Ländern war Andy Warhol zu Lebzeiten hochumstritten. Immer wieder hat man ihn bei wichtigen Ausstellungsprojekten übergangen. Geradezu beispielhaft wurde die Zurückhaltung, welche das Museum of Modern Art in New York beim Ankauf von Warhol-Bildern an den Tag legte. Ohne Europa, ohne das nachhaltige Backing von Galeristen und Kunsthändlern vor allem in Frankreich und Deutschland, würden wir heute möglicherweise einen anderen Standpunkt gegenüber Warhols Œuvre einnehmen. Dabei wusste er nicht nur mit seinen Bild- und Filmwerken, sondern vor allem durch die Inszenierung seiner Person zu irritieren. In der Öffentlichkeit trat er einsilbig und menschenscheu in Erscheinung, gern in Begleitung sogenannter „Superstars“ wie Edie Sedgwick, die kurze Zeit für ihn als Sprachrohr fungierte. Glaubt man dem Autor, so war Andy Warhol sein eigener größter Superstar. Konzeptionell soll diese Stilisierung in seinem letzten Lebensjahrzehnt (Warhol starb 1987 nach einer Gallenoperation an Organversagen) einen Höhepunkt erreicht haben, als er sich während eines Themenabends in der New Yorker Großraumdiskothek „Area“ in einen Glaskasten setzte, wobei der Betrachter auf einem Schild daneben den Titel „Andy Warhol, Invisible Sculpture, Mixed Media 1985“ lesen konnte.
Neben dem klassischen Wahlspruch der Avantgarde „Make it new“ war die Auflösung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt bzw. der Bindung des Werks an den Künstler – auch mit der Möglichkeit, dass beides ineinander fällt – zeitlebens Warhols Credo. So gesehen leuchtet ein, dass praktisch jedes Statement von Zeitzeugen, die Blake Gopnik massenhaft auffährt, von einem anderen Warhol kündet. Als gäbe es hunderte von ihm, zu jeder Tageszeit in einer anderen Stimmungslage. So muss man sich für eine Sicht entscheiden, und sei es auch nur tendenziell. Entsprechend könnte die Biografie „Warhol: Ein Leben als Kunst“ als gelungener Versuch gelesen werden, den vielfach als opportunistisches Muttersöhnchen, als geizig, asexuell, apolitisch und kaltherzig Gescholtenen vor allem auch jenseits seiner Bedeutung als Jahrhundertkünstler zu rehabilitieren. Mag sein, dass sich Warhol den Reichen und Berühmten als „Maskottchen“ andiente und mit seinen Despotenporträts vom persischen Schah und dem philippinischen Diktator Ferdinand Marcos schwerwiegende Fehler beging. Aber ganz im Innern oder Privaten, hinter all den Scharaden und dem Blitzlichtgewitter, war er dennoch „ein sehr anständiger Mensch“, wie Blake Gopnik hervorhebt, der dezent und entgegen anderslautender Meinungen durchaus politisch klar positioniert als Förderer auftrat, denn „seine Archive sind voller Dankesschreiben fortschrittlicher Organisationen, die er über die Jahrzehnte unterstützte“.
Blake Gopnik
Warhol: Ein Leben als Kunst – Die Biografie.
C. Bertelsmann Verlag,
München 2020. 1.232 S., 48 €
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