Sie sind alle da, nun ja fast alle. Natürlich wird der „Big Man“ Clarence Clemons, der 2011 verstarb, schmerzlich vermisst – für ihn spielt Neffe Jake Clemons das für den Sound der E Street Band so typische Saxofon. Aber sonst: „Professor“ Roy Bittan sitzt am Klavier, „Little Steven“ Van Zandt sowie Nils Lofgren haben sich ihre Fender-Gitarren umgeschnallt, Garry Tallent sich den Bass geschnappt, „Mighty Max“ Weinberg hinter seiner Schießbude Platz genommen und Patti Scialfa, die Ehefrau vom Boss, steht neben ihrem Ehegatten, um wie immer die Backing Vocals zu übernehmen. Zu ihnen gesellt sich dann noch Charlie Giordano an der Orgel und dann rockt die „Altherren-Kapelle“ los und fängt die Live-im-Studio-Atmosphäre so beeindruckend wie lange nicht mehr ein.
Das war im November 2019. Springsteen hatte fünf verschneite Tage angesetzt, um, nach zahlreichen anderen Projekten, endlich mal wieder mit seiner legendären Begleitband neues Material einzuspielen. Bereits nach vier Tagen hatten sie ein komplettes Album im Kasten, fügten keinerlei Overdubs hinzu und das hört man dieser Produktion an: Sie klingt frisch, rockig und vor allem sehr roh. Springsteens Truppe kann durchaus anknüpfen an Leistungen der besten Tage der famosen E Street Band in den 70ern, Anfang der 80er oder an das exzellente Comeback-Album „The Rising“ von 2002. Alle E-Street-Ingredienzen sind da: sanft perlende Klavierpassagen, anschwellende Orgelakkorde, fette halb verzerrte Gitarren, packende Saxofonsoli und natürlich das verzückende Glockenspiel!
So mitreißend die Musik ist, so beklemmend sind diesmal die Texte größtenteils ausgefallen. Der Boss blickt auf sein Leben zurück, auf tragische Ereignisse wie den Verlust seines Vaters, den Tod von Danny Federici und Clarence Clemons, die mehr als musikalische Begleiter waren, sondern enge Freunde, und auch den von George Theiss, dem Gründer von Springsteens erster Band The Castiles. Und so beginnt „Last Man Standing“, der persönlichste und eindringlichste Song auf dem Album, mit Reminiszenzen an die Castiles auf Tour, um dann den Bogen in die Zukunft zu schlagen, eine Zukunft, die eben geprägt ist durch den Verlust mehrerer ehemaliger Weggefährten.
Die Endlichkeit des Lebens und der Tod sind in den neuen Songs allgegenwärtig, doch die kraftvolle Darbietung der Musiker und Springsteens ebenso kraftvoller Gesang, dem es fernliegt, weinerlich zu jammern, stimmen trotz der schweren Themen hoffnungsvoll. In „House of a Thousand Guitars“, einer weiteren musikalischen Großtat mit einer Melodie für die Ewigkeit, geht es selbstredend um die heilende Kraft von Musik. Subjektive und kollektive Erinnerungen fallen auf diesem Album des Öfteren zusammen: Die eigene Vergangenheitsbewältigung erscheint konstitutiv für die Geschichte der ganzen Nation.
Neben den neuen Kompositionen haben Bruce und seine Mitstreiter auch drei ältere, ziemlich unbekannte Songs aus den 70ern neu eingespielt. Dabei stechen „If I Was the Priest“, das von der Stimmung und vom Sound her zu 100% nach einem Track von „Darkness on the Edge of Town“ klingt, und das unter Fans beliebte „Janey Needs a Shooter“ besonders hervor.
Okay, es gibt auch einige schwächere Nummern zu verzeichnen und der Titeltrack klingt ein bisschen, als sei er aus Versatzstücken anderer Springsteen-Stücke zusammengesetzt. In seiner Gesamtheit ist dies jedoch ein richtig gutes Album, dessen Songs nach Liveaufführung schreien und so bleibt zu hoffen, dass wir diese (immer noch) fantastische Band irgendwann noch einmal auf der Bühne erleben dürfen mit ihrem Boss, der Stagediving und Crowdsurfing quasi miterfunden hat und wohl auch noch mit seinen 71 Jahren ein Bad in jeder verschwitzten Menschenmenge nehmen würde. (Gil Max)
Bewertung: 8/10
Anspieltipps: Last Man Standing, House of a Thousand Guitars, If I Was the Priest
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