Insel der verlorenen Erinnerung
In ihrem 2020 auf Englisch und Deutsch erschienenen Roman sinniert die japanische Schriftstellerin Yoko Ogawa über den Verlust von Freiheit und darüber, wie wichtig es ist, Vergangenes zu bewahren.
Auf einer Insel unweit vom Festland ereignet sich Merkwürdiges. Dinge verschwinden, zunächst sind es Hüte, dann alle Vögel. Plötzlich ist die Fähre, die letzte Verbindung zur Außenwelt verschwunden. Die Bewohner der Insel wundern sich zunächst, doch dann gewöhnen sie sich an die Ereignisse. Denn sie können sich nicht mehr an die Zeit vor dem Verschwinden der Dinge erinnern, auch ihr Gedächtnis wird nach und nach gelöscht. Nur ganz wenige können nicht vergessen. Diese jedoch werden von der Erinnerungspolizei gejagt, die dafür sorgen soll, dass nicht nur die Dinge, sondern auch jede Erinnerung an sie verschwunden bleiben.
Als eine junge Schriftstellerin erfährt, dass auch ihr Verleger von der Erinnerungspolizei gesucht wird, bietet sie ihm ein Versteck an. Beider Hoffnung ist, dass ihr Roman fertiggestellt werden kann, denn der bietet die letzte Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewahren. Doch die Zeit wird knapp, die Fahnder ziehen immer engere Kreise um das Versteck …
Yoko Ogawa, Insel der verlorenen Erinnerung, Liebeskind-Verlag, 352 S., 22 Euro, ISBN 978-3-95438-122-7.
All unsere Jahre
Wie geht man mit einer Langzeitehe um? Die britisch-kanadische Schriftstellerin Kathy Page widmete sich diesem Thema in ihrem Roman „All unsere Jahre“. Wir begleiten das Paar Harry Miles und Evelyn Hill. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs begegnen sie sich in einer Londoner Bibliothek. Sie lernen sich flüchtig kennen und heiraten, kurz bevor Harry als Freiwilliger in den Krieg zieht. Nach dem Krieg verzichtet Harry, der aus ärmlichen Kreisen stammt, auf die Möglichkeit, sich ein Leben als Schriftsteller aufzubauen. Stattdessen nimmt er eine Festanstellung in einer Londoner Behörde an. Beider Lebensmodell ist, eine kleinbürgerliche Familie zu gründen, mit Haus und Vorgarten in gut situierter Nachbarschaft, mit drei Töchtern, denen sie durch Fleiß und Umsicht sogar eine Hochschulausbildung ermöglichen.
Doch hat die Liebe, die anfangs wenigstens in Harry brannte, auf Dauer Bestand? Der Leser begleitet das Paar durch Höhen und Tiefen und muss erkennen, dass sie sich immer mehr entfremden: Während Harry noch nach der Liebe seines Lebens sucht, entwickelt sich Evelyn zur herrschsüchtigen, alles bestimmenden Frau. Mit 90 landet Harry in einem Pflegeheim, selbst einen Rasierer will ihm seine Frau, die erklärt hat, sich nicht mehr um ihn kümmern zu können, nicht mehr besorgen.
Kathy Page geht in ihrem Roman der Frage nach, wo geht die Liebe hin, wenn sie geht. Und wie denkt man über die Frage verpasster Abzweige im Leben nach, wenn es fast zu Ende gelebt ist.
Kathy Page, All unsere Jahre, Klaus-Wagenbach-Verlag, 304 S., 24 Euro, ISBN 978-3-803-13313-7.
Weiß
Weiß ist mehr als eine Farbe, weiß ist Erinnerung, ein Lebenszustand. Die koreanische Schriftstellerin Han Kang hat mit ihrem neuen Roman „Weiß“ gezeigt, dass man in poetischer Form eigene Erinnerungen aufarbeiten und mit einem breiten Publikum teilen kann.
Während eines Aufenthaltes in einer tief verschneiten europäischen Stadt wird die Erzählerin von heftigen Erinnerungen befallen. Das Weiß der im Winterschlaf verharrenden Umwelt lässt die junge Frau sich an ihre kleine, im Kindbett verstorbene Schwester erinnern: Weiß ist die Farbe, in der die Neugeborenen gehüllt werden, Weiß ist auch die Farbe des Totenkleides. Han Kang beschreibt im Buch nicht nur das Leid der Mutter, die den Tod ihrer beiden erstgeborenen Kinder nie verwinden kann, sie schildert auch ihre Schuldgefühle, ihr Ahnen, dass sie nur lebt, weil die Kinder nur kurz diese Welt erblickten.
Diese Gefühle arbeitet sie an der Farbe Weiß ab: vom Streichen einer neuen Wohnung bis zu Alltagsgegenständen wie Zucker, Milch und Salz, hinauf zum Firmament mit der Milchstraße.
Han Kang, Weiß, Aufbau-Verlag, 151 S., 20 Euro, ISBN 978-3-351-03722-2.
Brennendes Licht
Anna Seghers braucht man einem älteren Leserkreis durchaus nicht vorzustellen. Die Grande Dame der deutschen Literatur, langjährige Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbandes, ist mit ihren Werken wie auch mit ihrer Literaturpolitik an die Öffentlichkeit getreten.
Jüngere Leser dürften jedoch an die Lektüre solcher Romane wie „Das siebte Kreuz“ herangeführt werden.
In „Brennendes Licht“ beschreibt der Literaturkritiker und Autor Volker Weidermann die Flucht der Jüdin und Kommunistin Anna Seghers vor den deutschen Nazis. 1942, als „Das siebte Kreuz“ erstmalig in den USA erschien und auf den Bestsellerlisten landete, lehnten die Behörden einen Asylantrag der Autorin des Romans ab. Weidermann begleitet die Flüchtende in das Exil nach Mexiko. Dort trifft Seghers nicht nur Frida Kahlo, Diego Rivera und Pablo Neruda, sondern auch viele deutsche Emigranten, Juden und Kommunisten, die nicht nur aus Deutschland, sondern auch vor den Verfolgungen Stalins Schutz in Mexiko suchten. Weidemann schildert Kampf, Zweifel, Ohnmacht – so, als sie vom Tod ihrer jüdischen Mutter erfährt: Hedwig Reiling konnte nach 1942 nicht mehr aus Deutschland ausreisen, sie wurde aus einem „Judenhaus“ in Mainz abgeholt und nach Polen deportiert, wo sie im Lager Piaski bei Lublin starb.
Weidermann beschreibt diese Jahre des Exils akribisch und dennoch einfühlsam. Ein Stück deutscher Geschichte, das sich weitab von zu Hause abspielte.
Volker Weidermann, Brennendes Licht, Aufbau-Verlag, 186 S., 18 Euro, ISBN 978-3-351-03794-9.
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