Liebes Tagebuch … Da stand ich also. Auf den neun Zentimeter hohen Hacken der neuen Wildleder-Riemchensandalen, in einem schwarzen Einteiler, mit bordeauxroten Fußnägeln und Lippenstift, Chanel Nr. 5 sowie meinen bevorzugten Glitzerohrringen, als mich der Anruf eines Kollegen auf den Teppich zurückholte: Danach hieß es leider wieder … bleib zu Haus’ und zieh’ die Verstauchungsstelzen aus. Dabei hätte ich nichts dagegen gehabt, dem Swift Hesperingen am Dienstagabend mein perfekt aufeinander abgestimmtes Outfit für angenehm warme Frühlingsabende, mitsamt einer hellblauen Maske, zu präsentieren. Doch anscheinend hatte die Polizei die Pressekonferenz gestrichen.
Sei’s drum! Dieser kleine Rückschlag beeinflusste das Projekt „Zurück in die Zukunft“ nicht mehr. Leider standen mir in den letzten Wochen weder ein DeLorean noch Martys Hoverboard zur Verfügung, dafür aber eine Art Biff, weiße Sneakers und ein nimmermüder Professor mit seiner Vorliebe für komplizierte Algorithmen und Gleichungen. Zudem lief genau wie in der dreiteiligen Zeitmaschinen-Saga auch in Kayl zunächst so einiges schief. Angefangen mit unvorhersehbaren Wendungen. Während 1955 die Mission bei den McFlys lautete, zueinander zu finden, hieß es bei uns exakt 65 Jahre später, zusammen und gelassen daheim zu bleiben … Das Ganze dann, obwohl man dazu tendiert hätte, Aluhut-Mitmenschen und Facebook-Kriegern verbal an die Gurgel zu gehen – womöglich hätte es ansonsten die nächste Parallele zum Film gegeben: Einen (virtuellen) Haken unters Kinn.
Mein „Doc Brown“ hat bei den Aussagen einiger Facebook-Ärzte mehr als nur einmal sein legendäres „Oh mein Gott!“ von sich gegeben. Keine Ahnung, was der „Richtige“, Christopher Lloyd, während der Quarantäne getrieben hat, aber auch er dürfte sich gefragt haben, ob er nicht besser wieder ins Jahr 1985 zurücksteuert (und zumindest ein paar Atemschutz-Dinger und Desinfektionsgel zu normalen Preisen hamstert). Statt sich auf einen perfekten Blitz in Hill Valley vorzubereiten, musste man zwischen März und Mai 2020 geduldig mit Maske auf neue Mehl- und Hefe-Lieferungen warten.
Mittlerweile sind meine Schränke aufgefüllt und der Nachwuchs anhand von Videos für den Schulanfang mental vorbereitet worden – zumindest in der Theorie. Eine andere Sorge bleibt: Nachdem ich rund zehn Wochen in einem anderen Zeitfenster relativ apathisch und ohne geregelten Tagesablauf in den eigenen vier Wänden dahinvegetiert bin, klingelt ab Montag wieder täglich der Wecker – und wir klettern von der Zeitmaschine in die Realität zurück. Das Lehrpersonal möge mir Augenringe und leichte Verwirrtheit zur frühen Stunde verzeihen.
Marty hat uns gezeigt, dass man manchmal etwas zurückblicken muss, um den Lauf des Lebens zu verstehen. Während zwei Monaten war bei uns im Haus alles „so wie damals, als wir noch klein waren“: Wir hatten trotz Vollzeitjobs Zeit zum Spielen, haben literweise Eis genascht und mit hoffnungsvollen Augen in die Zukunft geschaut. Doch die wichtigste Lehre zum Schluss: Ich weiß wieder, dass mein Plutonium neues Schuhwerk ist. Und damit ich es nie vergesse: Liest man den Namen des „Dr. Emmett Lathrop Brown“ rückwärts (Portal Time), versteht man auch, warum jeder (s)einen Professor haben sollte.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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