Tageblatt: Herr Schulz, wodurch definiert sich erholsamer Schlaf?
André Schulz: Es gibt mehrere Faktoren, die erholsamen Schlaf auszeichnen. Der erste ist die Länge des Schlafs. Für die meisten Erwachsenen liegt die optimale Länge je nach Lebensalter zwischen sechs und neun Stunden. Wenn die Schlaflänge dauerhaft darunter oder auch darüber liegt, kann dies die Gesundheit beeinträchtigen. Der zweite Faktor ist die Schlafeffizienz. Je länger man tatsächlich schläft, anstatt nur wach im Bett zu liegen, desto erholsamer ist der Schlaf. Ideal wäre eine Schlafeffizienz nahe bei 100 Prozent – dann schläft man beinahe die ganze Zeit, die man im Bett verbringt. Letztlich spielen auch Schlafstadien eine Rolle. Der Schlaf ist im Verlauf der Nacht unterschiedlich tief: von Tiefschlafphasen in frühen Abschnitten der Nacht („Slow Wave Sleep“), die für die Erholung sehr wichtig sind, über leichtere Schlafstadien bis hin zu sogenannten REM-Phasen („Rapid Eye Movement“). Bei den REM-Phasen kommt es zu schnellen Augenbewegungen. Diese Schlafphase ist vermutlich für das Träumen, das Lernen und das Gedächtnis, aber womöglich auch für die Stressverarbeitung wichtig. Die Schlafdauer kann man teilweise durch den Zeitpunkt des Zubettgehens und Aufstehens selbst beeinflussen.
Nun möchte ja beinahe jeder schlafen, der im Bett liegt. Schlaflosigkeit sucht sich ja niemand aus. Kann man auch die Schlafeffizienz beeinflussen?
Das geht paradoxerweise eher dadurch, dass man Wachzeiten im Bett vermeidet und aufsteht, wenn man nicht schlafen kann, auch wenn man noch müde ist. Der Schlafdruck erhöht sich dann in der folgenden Nacht und führt somit zu einer höheren Schlafeffizienz. Mittelfristig ist es dadurch auch möglich, dass sich der Anteil der Schlafstadien, die für Erholung wichtig sind, dadurch normalisiert.
Kann die Sorge vor einer Infektion, vor der Existenzsicherung bei Selbstständigen, vor einer Zukunft mit dem Virus so stark sein, dass sie die Schlafqualität und -dauer nachweislich verändert?
Sorgen und Ängste gehören zu den wichtigsten Risikofaktoren für Einschlaf- und Durchschlafstörungen und können somit die Schlafqualität signifikant beeinträchtigen. Es gibt in der derzeitigen gesellschaftlichen und ökonomischen Situation vermutlich viele Stressfaktoren, die Sorgen und Ängste auslösen: Sorgen um den Arbeitsplatz, wegfallende Einkünfte bei zahlreichen Berufsgruppen (z.B. Selbstständigen, Künstlern, Beschäftigten in der Luftfahrt), Angst vor einer Ansteckung, beruflicher Stress durchs Arbeiten im Home-Office bei gleichzeitiger Kinderbetreuung, langes und nächtliches Arbeiten, um die Reduktion der verfügbaren Arbeitszeit auszugleichen, soziale Spannungen innerhalb der Familie, die teilweise sehr viel Zeit zusammen auf engem Raum verbringen muss, sowie das Wegfallen sozialer Unterstützungsfaktoren (Freunde, Kollegen, Nachbarn, Familienmitglieder), die uns normalerweise bei dem Umgang mit den Sorgen und Ängsten unterstützen. Je nachdem, welchen Stressfaktoren eine Person während der Covid-19-Schutzmaßnahmen ausgesetzt ist, kann es durchaus vorkommen, dass Sorgen und Ängste entstehen, die dann den Schlaf negativ beeinflussen. Allerdings fehlen dazu bislang für die meisten Länder verlässliche Daten. Vermutlich kann man hierzu erst Aussagen treffen, wenn die Maßnahmen mehr und mehr gelockert wurden und einige dieser Stressursachen wieder wegfallen. Es ist denkbar, dass sich dann bei vielen Menschen durch das Wegfallen vieler Stressfaktoren auch das Schlafverhalten schnell normalisiert.
Durch den Lockdown halten sich die Menschen vermehrt in der Wohnung auf. Bewegung bleibt auf das Notwendigste reduziert. Nahrung ist in Griffbereitschaft. Inwiefern spielt die Ernährung für einen gesunden, erholsamen Schlaf (auch ohne Corona-Bezug) eine Rolle?
Sowohl Bewegung als auch Essverhalten beeinflussen den Schlaf erheblich. Zu viel und zu spätes Essen beeinträchtigen das Einschlafen. Zu wenig Bewegung verschlechtert die körperliche Verfassung. Es kommt zu einer schlechteren Anpassungsfähigkeit des autonomen Nervensystems, die für die Bereitstellung von Energie für wechselnde Anforderungen aber im Alltag wichtig ist. Das Immunsystem leidet darunter, aber auch die Anpassungsfähigkeit des Gehirns, da wichtige Kontrollfunktionen im sogenannten Präfrontalkortex (Teil des Frontallappens der Großhirnrinde) weniger effektiv sind. Diese Mechanismen brauchen wir jedoch, um belastbar für körperliche und psychische Herausforderungen zu sein. Wenn sie beeinträchtigt sind, entsteht durch sonst „normale“ Belastungen umso schneller Stress, dem wir dann nicht ausreichend gewachsen sind. Überlastungen des autonomen Nervensystems (vor allem: weniger parasympathische Aktivität, die eher zur Beruhigung führt) verschlechtern unsere Fähigkeit zur Erholung und beeinträchtigen somit auch die Schlafqualität. Eine ausgewogene Ernährung mit dem auch sonst empfehlenswerten Essverhalten von ca. drei Mahlzeiten (ohne spätes oder nächtliches Essen) sowie regelmäßige Bewegung sind auch in Corona-Zeiten sehr empfehlenswert, um die Schlafqualität zu erhalten.
Kann ein Feierabendbier tatsächlich den Stresslevel am Abend (im Ausnahmezustand) senken? Oder anders gefragt: Ist Alkohol als Schlaftrunk besser als Omas heiße Milch mit Honig?
Es erscheint zunächst naheliegend, dass sich Alkohol zur Selbstmedikation bei Schlafproblemen eignet. Das erklärt sich dadurch, dass Alkohol Botenstoffe im Gehirn wie beispielsweise Glutamat hemmen, die eher eine Aktivierung begünstigen. Gleichzeitig verstärken sie Botenstoffe, die eher eine dämpfende Wirkung haben, wie z. B. GABA. Dieser Mechanismus erklärt das persönliche Empfinden, dass Stresszustände, Angst- und Spannungsgefühle durch den Alkohol reduziert werden. Somit kann insbesondere das Einschlafen durch Alkohol verbessert werden. Aber es ist Vorsicht geboten! Letztlich geht es einem beim Schlaf ja um die Erholung. Diese ist wiederum beim Alkoholkonsum gerade nicht gegeben. Alkoholkonsum begünstigt Durchschlafprobleme, die Schlafphasen werden weniger tief und lang. Dadurch ist der Schlaf weniger erholsam als ohne Alkohol. Ganz abgesehen von den anderen Nachteilen des Alkoholkonsums wie Toleranzentwicklung (man braucht immer mehr davon, um die gleiche Wirkung zu erzielen), das Suchtpotenzial sowie die Schädigung zahlreicher Organe, besonders des Gehirns. Gegen ein gelegentliches Feierabendbier ist nichts einzuwenden, aber jede Regelmäßigkeit (auch bei kleineren Trinkmengen) sollte zugunsten der Gesundheit vermieden werden.
Alkohol schadet der Gesundheit, ein probates Mittel gegen Lagerkoller ist Bewegung an der frischen Luft. Unter Einhaltung verschiedener Vorsichtsmaßnahmen waren Spaziergänge schon seit Beginn des Lockdowns in Luxemburg erlaubt. Welche Vorteile hat der Spaziergang im Freien für Psyche und Schlafqualität?
Vom psychologischen Standpunkt her führt ein Spaziergang im Freien (vor allem in der Natur) dazu, dass der Fokus unserer Aufmerksamkeit „wandert“. Wir können leichter loslassen von Themen, die uns möglicherweise den Tag über verfolgen. Dieser positive Effekt der „Zerstreuung“ kann somit auch dazu führen, dass Gedankenketten von Sorgen und Ängsten durchbrochen werden und somit auch der Schlaf verbessert wird. Im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben und Sicherheitsmaßnahmen ist es für die eigene Gesundheit in jedem Fall empfehlenswert, den Spielraum für Aktivität im Freien zu nutzen. Regelmäßige Bewegung zur Erhaltung der Fitness ist unbedingt anzuraten, um die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit des eigenen Körpers und Geistes zu stärken. Wenn nötig sollte auch zu Hause ein Fitnessprogramm absolviert werden, aber körperliche Aktivität im Freien hat zusätzliche Vorteile. Dazu gehören z.B. die Sonneneinstrahlung, die die Bildung von Vitamin D begünstigt und damit positive Effekte auf das Immunsystem und die Stresssysteme des Körpers erzielt. Sowohl die Funktion des Immunsystems als auch die der Stresssysteme (z.B. autonomes Nervensystem) beeinflussen die Schlafqualität erheblich.
Luxemburg-Studie zu Auswirkungen von Covid-19-Schutzmaßnahmen auf die Gesundheit
In einer größeren Studie untersuchen Wissenschaftler der Universität Luxemburg (Fachbereich Psychologie) derzeit die Auswirkungen der Covid-19-Schutzmaßnahmen auf die Gesundheit. Bei Interesse kann jeder an der Online-Befragung teilnehmen. Sie wird mit einem Gutschein von 20 Euro kompensiert. Möglicherweise gelingt es den Forschern in absehbarer Zeit auch, Aussagen darüber treffen, wie diese Stressfaktoren die Gesundheit der Luxemburger Bürger beeinflusst.
Hier geht es zur Studie: https://s2survey.net/comehere/
Unser Experte
Dr. André Schulz ist Diplompsychologe, Forscher und stellvertretender Direktor von Epsylon („Experimental Psychology Laboratories Network“, Netzwerk der Forschungsabteilungen experimenteller Psychologie) an der Uni Luxemburg sowie Leiter der „Clipslab“, wo u.a. die Kommunikation zwischen Gehirn und Körper sowie deren Auswirkungen auf die Gesundheit untersucht wird.
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