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EditorialKultur ist kein Luxus

Editorial / Kultur ist kein Luxus
Bis auf Weiteres geschlossen – die Kultur wird in der Pandemie abgeschafft, obwohl jeder sie während des Lockdowns (und danach) braucht Foto: 

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Während sich die Welt in Befürworter und Gegner der Lockerungen aufteilt, trifft die Kulturwelt nicht nur eine wirtschaftliche Krise (Kulturevents werden am längsten verboten sein) – es verstärkt sich für sie auch folgendes Paradoxon: Im Alltag ist sie sichtbarer denn je – Netflix-Abos schießen in die Höhe, viele vertreiben sich die Zeit mit Musik und Büchern –, in politischen Debatten wird den Kulturschaffenden allerdings wie so oft kaum Aufmerksamkeit geschenkt.

„Kultur ist kein Luxus“ war einst das Leitmotiv einer Saison des Kasemattentheaters. Genau so wird Kultur aber zurzeit auf politischer Ebene behandelt – als wäre sie ein entbehrlicher Mehrwert. Weil Edouard Philippe in seiner Vorstellung der Lockerungsmaßnahmen die Kultur nicht erwähnt hat, verlangt ein von vielen Kulturschaffenden Frankreichs unterzeichneter offener Brief, dass dieser Fauxpas behoben wird – immerhin verdienen in Frankreich 1,3 Millionen Menschen ihr Brot mit der Kultur.

Menschen, die Kultur für system-irrelevant halten, sollte man die Kultur im Lockdown streichen. Kein Netflix. Keine Filme. Keine Musik. Keine Bücher. Im Fernsehen und Internet nur Nachrichten, vielleicht ein paar trashige Shows oder Werbungen – doch auch die werden meist von desillusionierten Menschen mit Talent zum Geschichtenerzählen entworfen. Bilderlose, graue Tapeten ohne Motive. Im Küchenschrank nur farblose Teller und Tassen. Eine Allegorie der Langeweile.

Ohne Kultur wäre dieser Lockdown unerträglich, weil wir uns alle (noch viel mehr) zu Tode langweilen würden. Trotzdem ist aber (fast) niemand bereit, der Kultur den Stellenwert einzuräumen, den sie längst hat, und sich konkret zu fragen, wie man diesen Sektor eigentlich retten will – langfristig sind staatliche Gelder weder auf wirtschaftlicher noch auf künstlerischer Ebene eine Lösung: Ein Kulturschaffender, der nicht schaffen kann, ist nicht nur ein armer, sondern auch ein leerer Mensch.

Dass die Online-Kultur unzufriedenstellend ist, sehen sogar die meisten Produzenten solcher Streaming-Events ein: Nicht nur ist die Technik unbefriedigend, nein, diese Events unterstreichen oftmals nur, was wir bei Kulturevents eigentlich (auch) suchen: die menschliche Nähe. Die verschwitzte Menge im Gerangel beim Konzert. Ich vermisse sogar das nervige Hustenkonzert in der Philharmonie oder die mondänen Snobs, die nur zur Vernissage gehen, um beim Sektschlürfen gesehen zu werden. Vor allem aber fehlt mir diese warme, kollektive Erkenntnis, die sich nach einem grandiosen Theaterstück oder einem ergreifenden Konzert einstellt – die Erkenntnis, gemeinsam etwas Großes erlebt zu haben, etwas, das man noch am selben Abend in der Kneipe durchdiskutiert oder auch Jahre danach gemeinsam erwähnt, etwas, das einen verbindet und einen auch durch die unerträglicheren Zeiten führt.

Wenn wir diese zwischenmenschliche Nähe dauerhaft opfern, gewinnen wir vielleicht den „Kampf“ gegen das Virus, opfern dafür aber unsere Menschlichkeit. In Zeiten, in denen eine Umarmung auf offener Straße ein Akt der Rebellion geworden ist, sage ich: Wer die Ökonomie wieder ankurbeln will, darf dabei ihren misstrauischsten aller Beobachter – die Kulturszene – nicht vergessen. Folglich müssen Galerien, Theaterhäuser, Konzerthallen schnellstmöglich wieder öffnen – meinetwegen mit Masken und streng limitiertem Besucherkontingent. Viele Bands würden es unter verschiedenen Bedingungen auf sich nehmen, ein Set zweimal zu spielen, um unter Berücksichtigung der Einschränkungen möglichst viele Fans zufriedenzustellen. Wenn Sicherheitsbestimmungen den Alltag nach und nach wieder ermöglichen, darf die Kultur nicht in der Nische des Online-Streamings verkümmern. Denn es ist wesentlich, dass sie die Gesellschaft nach der Pandemie mitgestaltet. Und das geht nun mal nicht ausschließlich „an der Stuff“.

wussler
3. Mai 2020 - 20.20

@luc jung

"Kultur ist Luxus. In diesen Zeiten ist Kultur ein ganz besonders grosser Luxus. Kultur war, ist und bleibt die Angelegenheit von sektschlürfenden Snobs."

Gitt mol eng Kéier op déi vill Vernissagen, wann der do bëllege Lambrusco kritt, deen d'Glieser verfierft da kënnt der scho frou sinn.
Leit mat Geld hunn hir eege Schwemm, Fitness, Tennis-Terrain, Kinossall... déi hu keng Problemer.

Aender T.
3. Mai 2020 - 10.29

Irgendwie komme ich nicht klar mit dieser Vorstellung, Kultur wäre nur "schöne Künste", "les beaux arts"... Musik, Malerei, Skulptur, Fotographie, Theater und auch Film.. und ähnliches, Tapetendesign und sonstige Gestaltungsbeschäftigungen zwecks ästhetischer Verschönerung...wer hat denn die Welt so hässlich gemacht, daß wir so viel Verschönerung brauchen...?
Eine Kultur, die uns alle am Leben hält ist zum Beispiel "Agrikultur": das Wissen über den Boden und den Himmel, Meteorologie, und wie und wann welche Pflanzen anzubauen, zu gießen, auf Schädlinge zu untersuchen und vor ihnen zu schützen, und schlußendlich, zu ernten und dann zu konservieren sind. (Felder und Wiesen sind übrigens sehr oft Motive in der Malerei und Fotographie...all diese Blüten. . . wäre es nur Beton, bräuchten wir gar keine Farben. . )
Ich wünsche mir keinen Agrarstaat, nur finde ich es doch wichtiger, zu wissen, wann ich mein Gemüse anpflanze und wie ich es verarbeite, als aus reinem Zeitvertreib Farben zu mischen, oder Noten abzuklimpern. Nicht falsch verstehen: ich mag bildende Künste, nur bringen sie nichts auf den Teller, auch wenn der "Kulturbetrieb" mittlerweile großindustrielle Dimensionen angenommen hat. All diese "Kulturschaffenden" müssen .. essen.
Es gibt auch noch eine andere Kultur, die nicht weniger wichtig ist: Körperkultur, das Wissen über seinen Körper, wie er Nahrungsmittel verarbeitet und was er braucht um gut zu funktionnieren, um dann schlußendlich in der Lage zu sein, "Kunst" zu schaffen, wenn alle primären Bedürfnisse erfüllt sind.
Ein noch viel wichtigeres Kulturgut ist Medizin, das Wissen über wie man den Körper heilen kann, jenen, der durch harte Körperarbeit auf dem Feld, im Stall, in der Werkstatt für Möbelbau, auf dem Bau, weil wir ja auch Häuser und Hallen, und Museen brauchen, in denen wir all diese schönen Kulturgüter konsumieren können, abgewrackt und müde ist. Oder weil Körperkultur vernachlässigt wurde . . oder er sich vielleicht einfach nur ein Virus gefangen hat . . .
Eine Gesellschaft, die nur aus Tastaturklimperern, Saitenzupfern, Bildhauern, Bildschirmwischern . . .besteht, kann gar nicht überleben. Die Proportionen müssen stimmen. ..
Ganz einfach gefragt: was fehlt Ihnen den zu Hause mehr: lokales Gemüse oder ein Picasso? (letzterer ist gezwungener Weise importiert, aber vielleicht macht es auch ein Werk von Sosthène Weis . . .)
Aaach, ich vergaß: McDonalds, Fußball, Autorennen...Golf... Flugreisen . . .und billiges Benzin, weil das Gedrängel im Bus zum überfüllten Konzert nicht zu ertragen ist. Und da ist ja überall Viiiirus.
Worum ging es? Kultur?

Grober J-P.
3. Mai 2020 - 10.12

Kultur (lateinisch cultura ‚Bearbeitung‘, ‚Pflege‘, ‚Ackerbau‘) laut Wikipedia. Ohne Cultura im weitesten Sinne geht nichts. Sogar mein Friseur trägt dazu bei.

J.Scholer
2. Mai 2020 - 19.54

@Tom : Kann man Netflix, Internet , Fernsehen als Kultur definieren ? Sind dies nicht Mittel zum Zwecke ,(kulturelle ?) Angebote zu verbreiten? Wo bleibt, in Bezug auf diese , die zwischenmenschliche Nähe die Herr Schinker hervorhebt?

Tom
2. Mai 2020 - 16.26

@Luc Jung

"Menschen, die Kultur für system-irrelevant halten, sollte man die Kultur im Lockdown streichen. Kein Netflix. Keine Filme. Keine Musik. Keine Bücher. Im Fernsehen und Internet nur Nachrichten, vielleicht ein paar trashige Shows oder Werbungen – doch auch die werden meist von desillusionierten Menschen mit Talent zum Geschichtenerzählen entworfen. Bilderlose, graue Tapeten ohne Motive. Im Küchenschrank nur farblose Teller und Tassen. Eine Allegorie der Langeweile."

Viel Spaß in der Welt.

luc jung
2. Mai 2020 - 13.57

Kultur ist Luxus. In diesen Zeiten ist Kultur ein ganz besonders grosser Luxus. Kultur war, ist und bleibt die Angelegenheit von sektschlürfenden Snobs.

J.Scholer
2. Mai 2020 - 13.53

Auch wenn , lieber Jeff Schinker , Sie mir die Kultur im Lockdown streichen wollen , kann ich Ihre Meinung nicht teilen ,einige Punkte muss ich leider kommentieren.Ich bin der Überzeugung , mit system-irrevelanten Betrieben eine Gesellschaft nicht überleben kann . Deren existenzieller Mehrwert ist gleich Null in Krisenzeiten . Nun streite ich der Kultur ihren Stellenwert in der Gesellschaft nicht ab, aber die Realität in Krisen lehrt uns , der Bürger „ den Bauch net voll kritt mat Biicher liesen , Theater kucken,...“Sie schreiben auch:“Ein Kulturschaffender, der nicht schaffen kann, ist nicht nur ein armer, sondern auch ein leerer Mensch.“Wer verbietet dem Künstler sich dem kreativen Schaffen nicht hinzugeben? In der kulturellen Zeitgeschichte gab es Künstler, die am Bettelstab lebend ,am Hungertuch nagend , in Gefängnissen, Konzentrationslagern, unter Berufsverbot,....große Werke geschaffen haben, Künstler die nie zu Lebzeiten für ihr Schaffen entlohnt wurden.Ich habe schon öfters den Begriff der brotlosen Kunst in die Runde geworfen.Kann der heutige Künstler nur Großes erschaffen, er vom Staat entlohnt wird, er keinen Nebenberuf ausübt?Wenn dem so ist, times are changing, , war das oben zitierte Schaffen der Künstler vergangener Epochen wohl ein übermenschliches Phänomen.Mein letzter Kritikpunkt, ich zitiere Ihren Abschnitt:“Wenn wir diese zwischenmenschliche Nähe dauerhaft opfern, gewinnen wir vielleicht den „Kampf „gegen das Virus, opfern aber unsere Menschlichkeit.“Der Begriff der Menschlichkeit kann weit ausgelegt werden.Menschlichkeit ist für mich gleich Humanismus.Humanismus wird nicht durch die zwischenmenschliche Nähe beim Konzert-,Kino,....Theaterbesuch erschafft.Wäre es so , müsste man allen Rechtsextremen, Populisten ,... den Besuch der kulturellen Veranstaltungen ärztlich verschreiben lassen.Trotzdem meiner oft wiederkehrenden Kritik am kulturellen , wirtschaftlich orientierten Leben, lieber Herr Schinker, schreiben Sie in Ihrem gewohnten Style weiter, macht es mir immer wieder Freude Ihre Artikel zu lesen, sind diese eine kulturelle Bereicherung , ich oft viel Unbekanntes einer Generation entdecke, die die meine nicht ist.