Liebes Tagebuch, während bei anderen zu Hause die Welt kopf steht, darf ich mich glücklich schätzen, zu jenen zu gehören, bei denen sich im Alltag nicht viel geändert hat. Klar, gewohnte Restaurantbesuche fallen derzeit aus und auch sonst hat sich vieles ins getraute Heim verlagert, aber da fühle ich mich meist eh am wohlsten. Als Freelance-Journalistin bin ich es gewohnt, vom Küchentisch aus zu arbeiten, und wie es das Schicksal so will, wohne ich noch bei meinen Eltern, bin also weder allein noch auf nur ein paar Quadratmetern Wohnfläche eingesperrt. Hotel Mama hat viele Vorteile, vor allem aber die Lage unseres Hauses auf dem Land und die gemeinsamen Filmabende weiß ich aktuell doppelt zu schätzen.
Nun aber zu meinem Tag. Um 10.00 Uhr treffe ich mich virtuell mit einer Freundin zum Poledance-Training – sie bei sich zu Hause im Büro, ich bei uns in der Garage, wo ich kurzfristig mein Pole-Lager in Form einer transportierbaren Stange aufgeschlagen habe. Via Messenger-Videochat üben wir gemeinsam neue Routinen, zu zweit ist man halt doch motivierter als alleine. Nach dem traditionellen After-Work-out-Selfie geht es für mich an mein Laptop. Interviews finden derzeit nur telefonisch oder über Skype statt, das Schreiben erledige ich wie sonst auch immer: gemütlich am Tisch, während meine Eltern das Mittagessen zubereiten. Auch mein Bruder hat sich für die Quarantäne wieder bei uns einquartiert, normalerweise wäre er jetzt an der Uni in Köln. Im Gegensatz zu vielen anderen Geschwistern, die sich derzeit wohl gegenseitig mächtig auf den Sack gehen, kann ich mich über Lucas Anwesenheit nicht beklagen – bei Tomassinis steht Familienleben eben an oberster Stelle.
Am Nachmittag gönne ich mir zwischen Telefonaten und Artikel schreiben eine Auszeit. Falls meine Freundin Anja gerade mitliest: Leg die Zeitung weg, ich schreibe über dein (traditionell sehr verspätetes) Geburtstagsgeschenk. Was es wird, verrate ich natürlich nicht, nur so viel: Ich verbringe Stunden um Stunden mit Stricken. Irgendwie hat die aktuelle Situation auch was Positives, man findet wieder Zeit für die einfachen Dinge oder für Hobbys, die jahrelang in der Schublade verschwunden waren. Wollnachschub bekomme ich Gott sei Dank auch weiterhin über den Onlineshop der Bastelkiste und Inspiration gibt es im Internet zur Genüge. Ist schon praktisch, dass Covid-19 uns 2020 einen Besuch abstattet, wo wir doch alle miteinander vernetzt sind, und nicht 1980, so ganz ohne Internet und Smartphones.
Apropos Handy: Um 20.15 Uhr treffe ich mich mit Freunden zum Abendessen, natürlich alles virtuell. Davor geht es für uns aber raus vor die Tür, denn um 20.00 Uhr ist im Steinbrückener Armschlag täglich „Rendez-vous“, um den zahlreichen Helden der Krise zu applaudieren. Der Moment des Tages, an dem auch elf Nachbarn der Straße die Gelegenheit nutzen, über Distanz zu checken, ob bei den anderen alles in Ordnung ist. So, jetzt aber genug geschrieben, liebes Tagebuch, denn mein Videochat-Gruppendate wartet. Mal sehen, was die anderen während der Krise so treiben.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit vergangenem Montag (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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