Wie wird man eigentlich Abgeordneter in Luxemburg? Man nehme eine fiktive Kandidatin, eine fiktive Partei und ein echtes Wahlsystem. So kommt «Emma» in die große Politik.
Etwa ein Jahr vor dem Wahltag
Die Anwältin Emma lebt in Remich und will Parlamentsabgeordnete werden. Seit drei Jahren ist sie Mitglied der Partei «Schwarz». Bei den vergangenen Kommunalwahlen wurde sie in den Remicher Gemeinderat gewählt. Emma hat sich in Remich für den Bau eines Kulturzentrums starkgemacht. Weil dieser Bau umstritten war und sie es trotzdem geschafft hat, ihn durchzusetzen, hat der Parteivorstand beschlossen, sie ebenfalls bei den Parlamentswahlen antreten zu lassen. Emma nimmt dankend an.
Luxemburg ist in vier Wahlbezirke eingeteilt. Jeder Bezirk schickt je nach Größe eine bestimmte Zahl von Abgeordneten ins nationale Parlament. Im Süden sind es 23 Abgeordnete, im Zentrum 21, im Norden 9 und im Osten 7. Die «Chamber» wird also nachher aus 60 Abgeordneten bestehen. Da Emma in Remich wohnt, wird sie auf der Ostenliste ihrer Partei kandidieren. Sie könnte zwar auch woanders kandidieren. Aber im Osten kennt sie eben die meisten Leute. Und die gilt es, zu überzeugen.
Was sie wissen sollten: Die Zahl der Abgeordneten
Dass in Luxemburg genau 60 Abgeordnete im Parlament sitzen, ist relativ neu. Die feste Sitzzahl wurde erst 1988 über eine Verfassungsreform eingeführt. Davor wurde die Zahl der Sitze anhand der Einwohner des jeweiligen Bezirks berechnet. Die fünfjährige Legislaturperiode wurde auch erst 1954 eingeführt. Vorher dauerte eine Periode sechs Jahre. Die Bürger schritten auch nicht alle gemeinsam zur Wahl, sondern abwechselnd. Alle drei Jahre wurde gewählt. In einem Jahr X wählten Osten und Süden. Drei Jahre später dann Norden und Zentrum. Das bedeutet, dass die Hälfte des Parlaments alle drei Jahre erneuert wurde.
14. Oktober, morgens
Der Wahlkampf ist vorbei. Wochenlang hat Emma Weinfeste abgeklappert, sich auf Facebook mit politischen Gegnern gestritten und Plakate aufgehängt. Sie durfte sogar einmal im Radio auftreten. Auf einem der Weinfeste hat sie Tom kennengelernt und sich lange mit ihm unterhalten. Sie konnte ihn überzeugen. Tom tritt am 14. Oktober in die Wahlkabine. Er will, dass Emma ins Parlament kommt. Neben Emmas Liste «Schwarz» tritt im Osten noch eine zweite Liste «Weiß» an. Da es insgesamt sieben Sitze sind, schickt jede Partei jeweils sieben Kandidaten ins Rennen.
Tom hat nun mehrere Möglichkeiten. Er kann Emmas Partei eine Listenstimme geben. Das tut er, indem er das Feld über der Kandidatenliste ankreuzt. Tut er das, bekommen die sieben Kandidaten der Liste «Schwarz» jeweils eine Stimme. Tom kann aber auch einzelne Kandidaten wählen. Das bedeutet, dass er seine sieben Stimmen auf eine oder mehrere Parteien aufteilt. Verteilt er sie auf mehrere, wird das Panaschieren genannt. Weil Emma ihn am meisten überzeugt hat, gibt er ihr zwei Stimmen. Mehr darf er pro Kandidat nicht vergeben. Zwei weitere verteilt er an Pol und Sascha, die ebenfalls für die Partei «Schwarz» antreten. Seine drei restlichen Stimmen gehen an einzelne Kandidaten der Partei «Weiß». Somit hat er seine sieben Kreuze verteilt.
Was sie wissen sollten: Panaschieren in Luxemburg
2013 haben 58,7 Prozent der Wähler eine Listenstimme abgegeben. Es war das erste Jahr seit 1979, in dem die Listenwahl wieder deutlich beliebter wurde. Bei den Parlamentswahlen davor, im Jahr 2009, hatten sich nur 52 Prozent der Wähler für die Listenwahl entschieden.
14. Oktober, abends
Die Wahllokale sind schon etwas länger geschlossen. Emma ist in einem Café bei ihren Parteikollegen und starrt bangend auf ihr Smartphone. Alle zwei Minuten aktualisiert sie die Nachrichtenseite. Plötzlich wird das Resultat für den Osten verkündet. «Schwarz» erhält fünf Sitze, «Weiß» erhält zwei. Das Resultat entsteht folgendermaßen: In der ersten Auszählung wurden alle Stimmen aus dem Osten gezählt. 100 Wähler konnten sieben Kreuze verteilen. Die Gesamtzahl der Stimmen, also 700, wird durch die sieben im Osten verfügbaren Sitze + 1, also durch 8 geteilt. Das macht 87,5. Die Zahl wird auf 88 aufgerundet. Emmas Liste «Schwarz» erhielt 500 Stimmen. Die gegnerische Liste «Weiß» erhielt 200. Die beiden Zahlen werden durch 88 geteilt und abgerundet. Das Resultat dieser Rechnung ist die Zahl der Sitze, die eine Partei erhält. «Schwarz» bekommt 5 Sitze und «Weiß» bekommt 2.
Gar nicht so einfach.
Es geht aber noch komplizierter. Es kommt vor, dass nach der ersten Verteilung Sitze übrig bleiben. Das ist hier nicht der Fall. Wäre es so gewesen, müssen ein oder mehrere Restsitze vergeben werden.
Kleines Gedankenspiel: Von den sieben Sitzen gingen nach der ersten Rechnung vier an «Schwarz» und zwei an «Weiß». Ein Sitz bleibt übrig. Um zu entscheiden, wer den Sitz bekommt, werden Quotienten errechnet. Die Zahl der Stimmen, die die Partei erhielt, wird durch die Zahl der bereits zugesprochenen Sitze + 1 geteilt. «Schwarz» erhielt 500 Stimmen und 4 Sitze. 500 geteilt durch 5 (4+1) macht 100. Die Partei «Weiß» erhielt 200 Stimmen und 2 Sitze. 200 geteilt durch 3 (2+1) macht 66,7. Der Sitz geht also an «Schwarz».
Bei diesen Wahlen gab es im Osten keinen Restsitz zu vergeben, dennoch schlägt die Laune von Emma um. Ihre Partei hat zwar gewonnen und fünf Sitze im Parlament erhalten. Sie ist allerdings nur Sechste ihrer Liste und wird damit nicht Abgeordnete.
Ein Tag nach der Wahl
Emmas Partei „Schwarz“ hat landesweit die Wahlen gewonnen. Deshalb beschließt der Großherzog, den Spitzenkandidaten ihrer Partei zum „Formateur“, also zum Regierungsbilder zu ernennen. Wäre der Ausgang der Wahl aber unklar, weil zum Beispiel alle Parteien im Voraus meinten, dass sie nicht mit der großen Partei zusammenarbeiten wollen, dann könnte er auch einen „Informateur“ ernennen, der erst mit allen Parteien spricht und dem Großherzog dann vorschlägt, wen er zum „Formateur“ designieren soll.
Die Ministerposten werden verteilt und für Emma bedeutet das ein zweites Mal bangen, denn es könnte doch noch ein Sitz im Parlament für sie frei werden. Und sie hat Glück. Der Erstgewählte der schwarzen Liste im Osten wird in die Regierung berufen. Er wird Landwirtschaftsminister. Das bedeutet: Er wird seinen Osten-Sitz in der schwarzen Chamber-Fraktion nicht besetzen. Regierungsposten sind nicht mit dem Mandat des Abgeordneten vereinbar. Weil Emma auf der Osten-Liste ihrer Partei die sechstmeisten Stimmen hat, rückt sie nach und wird somit doch noch Abgeordnete.
Was sie wissen sollten: Die Rolle des Großherzogs
Obwohl der Großherzog eigentlich keine wichtige politische Rolle mehr spielt, kann er durch das Nominieren eines „Formateur“ ein sehr deutliches politisches Zeichen setzen. Der Großherzog entscheidet, wer den Auftrag erhält, um nach den Wahlen eine Regierung zu bilden. Seine Entscheidung ist an keine Regeln gebunden, so dass es an ihm liegt, die Wahlresultate zu interpretieren.
Zwei Jahre später
Emma sitzt nach einem langen Tag im Parlament in ihrem Wohnzimmer in Remich. Sie liest gerade die Zeitung und trinkt Tee, als plötzlich ihr Telefon klingelt. Ihr wird ein Posten als Richterin am neuen Familiengericht angeboten. Ein lang gehegter Traum von ihr. Nur ist der Richterposten nicht vereinbar mit dem Abgeordnetenmandat. Sie entscheidet sich für das Richtermandat und muss ihren Sitz im Parlament räumen. Der Siebtgewählte der Ostenliste rückt nach. Die Unvereinbarkeit von Amt und Mandat gilt übrigens auch für folgende Posten: Staatsrat, Mitglied des Rechnungshofes, Distriktskommissar, Buchhalter beim Staat und Karrieresoldat.
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