Seit 2011 kommt Syrien nicht zur Ruhe. Den Bürgerkrieg hat Machthaber Assad zwar gewonnen, doch die großen geopolitischen Fragen bleiben ungelöst. Wir haben die Experten Kurt Pelda und Patrick Cockburn zu Rate gezogen, um aufzuzeichnen, wie sich die Lage in Syrien weiterentwickeln könnte.
Die Pufferzone bringt der Zivilbevölkerung eine Atempause, mehr nicht, sagt Kurt Pelda. Ab Mitte Oktober müssen die Rebellen einige wichtige Stellungen in dieser Zone räumen, das werde ihnen kaum gefallen, so der Schweizer Kriegsreporter.
Kurt Pelda, geboren 1965 in Basel, ist ein Schweizer Ökonom, Journalist und Kriegsreporter. Seine ersten Berichte schrieb Pelda aus Afghanistan. Seit dem Kriegsausbruch 2011 in Syrien bereiste er regelmäßig das Land. 2012 erschien sein Buch «Gaddafis Vermächtnis».
Hinzu komme, dass die Türkei gemäß Abkommen dafür sorgen muss, dass Dschihadisten und Al-Kaida-Terroristen Idlib verlassen. Damit würde Idlib seine kampfstärksten Verbände verlieren – was Pelda als «großen Vorteil für Assad» sieht. Als möglicher Zufluchtsort biete sich dem Schweizer zufolge der von der Türkei besetzte Norden der Provinz Aleppo an, nahe der türkischen Grenze.
Dorthin könnten die Terroristen leicht durch das ebenfalls von den Türken eroberte kurdische Afrin gelangen. Es sei anzunehmen, dass Ankara die aus Idlib abgezogenen Kräfte dann gegen die kurdischen Milizen östlich des Euphrats einsetzen will, sagt Pelda. «Davon einmal abgesehen, ist nicht zu erwarten, dass Assad seinen Plan, Idlib zu erobern, aufgeben wird.»
Was den Iran betrifft, erinnert Pelda daran, dass die Islamische Republik in Syrien ihre gegen Israel gerichteten militärischen Kräfte weiter aufbaut, «jetzt sogar unter dem Schutz von modernen S-300-Luftabwehrraketen, die Russland Syrien demnächst liefern will». Israel werde dem «nicht tatenlos zusehen». Als Vergeltung für weitere israelische Schläge, so Pelda, könnte die libanesische Hisbollah oder andere iranische Söldnertruppen Israel mit Raketen beschießen.
Im Norden Syriens werde sich das Gerangel zwischen Syrien und der Türkei um den kurdisch dominierten Grenzstreifen fortsetzen. Solange dort die amerikanischen Truppen stationiert sind, werden die kurdischen Milizen aber kaum vertrieben werden, erklärt Pelda.
Verhandlungen zwischen Damaskus und den Kurden seien in Gang, «der Ausgang aber ungewiss». «Im Zweifel», so Pelda, der hier einer Meinung mit Patrick Cockburn ist (siehe gegenüberliegende Seite), «werden die Kurden aber lieber ein Abkommen mit Assad schließen als sich dem türkischen Präsidenten Erdogan zu beugen.»
INTERVIEW
Assads Salamitaktik und Irans Karten
Baschar al-Assad hat den Bürgerkrieg in Syrien für sich entschieden. Das bleibt eine der wenigen beantworteten Fragen der Syrienkrise. Was passiert mit den Flüchtlingen? Welche Rolle wird die Türkei einnehmen? Was sind die Stärken des Iran? Und wo stehen die Europäer in dieser Verflechtung aus Krisen, die Hunderttausende das Leben kostete und Millionen in die Flucht trieb.
Ein Gespräch mit dem ausgezeichneten irischen Kriegsreporter und Nahost- Experten Patrick Cockburn.
Patrick Cockburn, geboren 1950 in Irland, ist Nahost-Korrespondent für den britischen Independent. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seine journalistische Arbeit, darunter den Martha-Gellhorn-Preis und die Auszeichnung «Auslandskorrespondent des Jahres 2014». Sein neues Buch «Chaos und Glaubenskrieg» (264 Seiten, 19,90 Euro) erschien im vergangenen Mai auf Deutsch im Promedia-Verlag.
Tageblatt: Ende September vereinbarten Russland und die Türkei eine entmilitarisierte Zone in der Provinz Idlib, um die syrische Regierung von einer Großoffensive auf dieses weiter außerhalb der Staatsgewalt stehende Gebiet abzubringen. Kann dieses Abkommen den Wirren der Syrienkrise standhalten?Patrick Cockburn: Was die völlige Umsetzung der Abmachung betrifft, bin ich skeptisch. Das Abkommen verlangt von der größten militärischen Gruppierung Hai’at Tahrir al-Sham, die Verbindungen zu Al-Kaida unterhält, ihre schweren Waffen aufzugeben, sich aus Idlib zurückzuziehen und einem Waffenstillstand zuzustimmen. Aber diese Gruppe hat dem Abkommen nicht zugestimmt – was klar war, es wäre ja auch die Zustimmung zu der eigenen Auflösung gewesen. Ein anderer Teil des Abkommens soll die Wiedereröffnung der beiden Autobahnen regeln, die Aleppo mit Latakia und Damaskus verbinden. Auch diesem Punkt hat die bewaffnete Opposition nicht zugestimmt. Auf der anderen Seite sind Russland und die Türkei die Schwergewichte in dieser Region und haben Einfluss auf alle dort aktiven Gruppierungen. Demnach: Das Abkommen wird wohl nicht vollkommen ignoriert werden, aber auch nicht in seiner Gänze eingehalten werden.
Klar ist, dass Assad den Bürgerkrieg gewonnen hat, das wissen wir nun seit einer Zeit. Aber es bleiben Fragen: Was wird die Rolle der Türkei sein? Was wird in Idlib geschehen? Was können wir also für die kommenden Monate in Syrien erwarten?
Die Regierung in Damaskus wird abwarten, bis der große Waffenstillstand zu bröckeln anfängt. Dann werden die Regierungstruppen nach Idlib eindringen, nicht mit einer Großoffensive, aber kontinuierlich. Eine Salamitaktik, wie man sie auch zuvor schon beobachten konnte in Syrien. Vermutlich werden sie in den flacheren, südlichen Teil Idlibs eindringen. Im Norden ist die Provinz gebirgig, das ist schwer zu bekämpfendes Terrain.
Was wird aus den Kurden?
Das ist auch eine Frage der Amerikaner und der Türken. Es ist offensichtlich, dass sich die amerikanische Außenpolitik, was Syrien betrifft, uneins ist, egal was sie sagen. Auf lange Sicht werden die Kurden ein Abkommen mit Damaskus suchen müssen – die Türkei macht ihnen mehr Angst als die syrische Regierung, und sie können sich nicht sicher sein, wie lange die Amerikaner sie noch unterstützen werden. Mehr als ein Drittel Nordsyriens wird von Kurden gehalten. Dort ist aber nur etwa die Hälfte der Bevölkerung Kurden und die andere Hälfte Araber. In Rakka und in Umgebung mag die lokale Bevölkerung weder die Kurden noch Assad – aber wenn sich diese Menschen entscheiden müssten, würden sie sich wahrscheinlich Assad zuwenden und nicht den Kurden rund um Deir ez-Zor.
Die internationalen Puppenspieler im syrischen Drama
Wladimir Putin, russischer Präsident. Russland steht auf Seiten Assads. Erst der russische Militäreinsatz hat Assad vor dem Sturz bewahrt.
Hassan Ruhani, iranischer Präsident. Iran ist ein
Verbündeter des syrischen Regimes und unterstützt Damaskus auch militärisch.
Recep Tayyip Erdogan, türkischer Präsident. Die Türkei unterstützt einen Teil der Rebellen, will die Dschihadisten aber bekämpfen, die 60 Prozent von Idlib besetzen.
In Syrien sind so viele Staaten eingebunden, wie kann da ein Frieden irgendwann aussehen?
Die syrische Krise war immer eine Folge, ein Geflecht aus Krisen zwischen den beteiligten Regional- und Großmächten. Die werden nicht alle enden, nur weil Assad den Bürgerkrieg gewonnen hat. Die USA, Frankreich, Großbritannien und auch Israel wollen Assad klein halten. Auf keinen Fall wollen sie, dass er stärker dasteht als zuvor – und werden weiter gegen ihn arbeiten. Was eine dumme Idee ist. Denn wer profitiert von einem Syrienkrieg, der wieder aufkocht, auch wenn es nur auf kleiner Flamme ist? Das sind der IS oder diese Al-Kaida-Klone, Gruppen, die den Krieg und das Chaos brauchen, um zu überleben – und die die Gelegenheiten, sollten sie sich bieten, nutzen werden.
Was ist mit den Europäern?
Die Europäer, also wir, tragen die wirtschaftlichen und vor allem die politischen Kosten. Ohne Zweifel haben die durch den Syrienkrieg ausgelösten Fluchtbewegungen zum Aufstieg des migrationsfeindlichen Populismus beigetragen. Die europäische Politik in Syrien, und das war in Libyen nicht anders, ist unüberlegt, gar selbstzerstörerisch. Es gab nie eine unabhängige und wirklichkeitsnahe Politik. Die gab es 2011 nicht und die gibt es jetzt nicht. Bereits vor langer Zeit hätte man anerkennen müssen, dass Assad nicht verschwinden wird. Trotzdem wurde immer weiter behauptet: Assad muss weg. Was völlig unrealistisch war.
Gibt es noch Auswege für die Europäer, können sie ihren Einfluss noch einmal spielen lassen?
Gebraucht würde eine realistische Politik: Eine, die anerkennt, dass Assad bleibt, und die Wege sucht, die Flüchtlinge wieder zurück nach Syrien zu bekommen. Es gibt sechs Millionen Flüchtlinge – werden die zurückkehren? Das ist eine wichtige Frage. Es wird also Abmachungen mit Assad geben müssen, zum Beispiel Aufbauhilfen und Abbau von Sanktionen auf der einen, Freilassung von Gefangenen auf der anderen Seite. Doch je stärker Assad wieder wird, desto geringer wird der Handlungsspielraum der Europäer – und der ist jetzt schon gering. Ich bin in dieser Hinsicht nicht optimistisch. Ihre klägliche Politik ziehen die Europäer seit 2011 durch. Einen Lerneffekt kann ich da nicht erkennen. Die einzige Strategie hat darin bestanden, diffus auf US-Linie zu bleiben – es war eine Politik des Verzichtes, eine Abdankung von der internationalen Bühne.
Ein große Figur auf dem Schachbrett der Syrienkrise ist aber Iran. USA und Israel scheinen zu denken, den Einfluss der Islamischen Republik auf Syrien zurückdrängen zu können. Ist das realistisch?
Die Konfrontation zwischen den USA, Israel und dem Iran mischt Syrien auf, so viel ist sicher. Aber es ist nicht so, dass es in Syrien eine wirkliche iranische Armee gibt. Seit den Jahren 1979/1980 gibt es strategische Abkommen zwischen Syrien und Iran. Das wird sich nicht ändern. Die USA gehen hart gegen Iran vor, wenn es um Wirtschaftssanktionen geht, was die finanzielle Macht der USA in der Welt unterstreicht. Wenn es aber um eine politische oder militärische Konfrontation in Syrien oder im Irak geht, halten die Iraner mehr Karten in den Händen – und wissen diese auch besser auszuspielen. Das sollten auch die USA mittlerweile verstanden haben.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können