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Alltag mit behindertem Kind: „Ich habe gelernt, im Moment zu leben“

Alltag mit behindertem Kind: „Ich habe gelernt, im Moment zu leben“

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Das Leben mit einem behinderten Kind ist schwer. Vor allem wenn es wie Serena mit zehn Jahren noch gewickelt werden muss. Ihr Vater hat eine Petition lanciert, die auf öffentlichen Toiletten «Wickeltische» fordert. Sie ist zwar ohne die nötige Zahl an Unterschriften abgelaufen, wurde aber an das Familienministerium weitergeleitet. Bis Samstag hat Corinne Cahen Zeit, zu antworten.

Der 10. Januar 2009 ist ein Schicksalstag für die Eltern von Serena. Nach Tochter Chiara haben sie noch ein Mädchen bekommen. An dem Tag fällt das 13 Monate alte Baby plötzlich in ein Wachkoma. Es kann gerettet werden, der «Unfall» hat allerdings dramatische Folgen. Serena ist Epileptikerin und geistig behindert. Sie wird sich – wenn überhaupt – nur stark altersverzögert entwickeln. «Ich bezweifle, dass sie mal heiratet und Kinder bekommt», sagt ihr Vater Fernand Boria.

Die heute Zehnjährige spricht nicht, isst nicht selbstständig, kann sich nicht anziehen und braucht nach wie vor Windeln. Das war auch der Grund, warum der Vater nicht mehr länger stillhalten wollte und die Petition Nr. 964 lancierte. Das war im Februar dieses Jahres. «Ein Holzbrett, drei Scharniere und die Anbringung, das kostet höchstens 200 Euro», sagt er. Gemeint ist eine Vorrichtung für das Wickeln von jungen oder älteren Erwachsenen auf den öffentlichen Toiletten im Land. Bisher improvisiert er und macht das auf dem Boden der Sanitäranlagen, auf Parkbänken oder im Auto, wenn er mit seiner Tochter unterwegs ist. «Der Boden in den Toiletten ist oft dreckig», sagt Boria, «und im Auto: Was werden die Leute denken, wenn sie die Füße einer jungen Frau herausstehen sehen und mich darüber gebeugt?»

Aussagen wie diese sind symptomatisch für die Einsamkeit des familiären Umfeldes in vielen Situationen. Jemand, der nicht selbst betroffen ist, versteht diese Sorgen nicht. Die geringe Zahl von rund 300 Unterschriften, um sein Anliegen zu unterstützen, ist dafür nur ein weiterer Beleg. Dennoch ist das Thema damit nicht sang- und klanglos untergegangen. Im Gegenteil: Die zuständige Kommission leitete die Petition am 7. Juni an DP-Familienministerin Corinne Cahen mit der Bitte um Stellungnahme weiter. Das entsprechende Schreiben, in dem Parlamentspräsident Mars di Bartolomeo dies mitteilt, liegt der Redaktion vor. Die Familienministerin hat einen Monat Zeit, um zu antworten, am Samstag läuft die Frist ab.

Existenzielle Situationen

Eine gewisse Einsamkeit strahlt auch Serenas Mutter aus. Ein Jahr braucht Corinne Lasnier, bis sie das Wort «Behinderung» aussprechen kann. «Das Kind ist nicht mehr so, wie man es sich gewünscht hat», sagt sie. Wie fragil dieser Wunsch ist, hat sie erlebt, ohne ihre Tochter danach weniger zu lieben. Aber das Leben wird komplizierter, schwerer. «Ich habe noch ein anderes Kind», sagt sie, «das will auch betreut und begleitet werden.» Sie löst das übers Reden. Viel reden, viel erklären und ehrliche Positionen. Und trotzdem gibt es immer wieder existenzielle Situationen. Die epileptischen Anfälle von Serena äußern sich nicht in Zuckungen, sondern in komatösen Zuständen, in denen das Kind zu erstarren scheint. «Beim ersten Mal hat meine ältere Tochter geschrien: ‹Sie ist tot, sie ist tot'», sagt Corinne, «das war grenzwertig, weil ich beiden gleichzeitig gerecht werden musste.» Mittlerweile ist Serena medikamentös so gut eingestellt, dass Krisen wie diese die Ausnahme sind.

Die Betreuung der Zehnjährigen ist ein 24-Stunden-Job, und das jeden Tag. Die Eltern von Serena leben getrennt, eine Entscheidung, die schon vor dem Unfall feststeht. Serena kann nicht sagen, wenn sie etwas vorhat, ist gleichzeitig aber sehr agil. Sie turnt ständig herum, ist sehr beweglich, erschließt sich die Welt aber, wie Kleinkinder es tun. Sie hat meistens etwas im Mund. «Wenn ich mit ihr zusammen bin, muss ich sie ständig im Auge behalten», sagt Vater Fernand. Ausruhen, erholen, mal in Ruhe etwas tun – all das ist schlichtweg nicht möglich. Gleiches gilt für die Mutter. «Ich habe nie Ferien», sagt Corinne. In ein speziell für diese Kinder arrangiertes Ferienlager will sie Serena nicht schicken. «Wenn ihr etwas zustößt, kann sie es nicht sagen», ist die Überlegung hinter vielem. Nicht zu Unrecht, wie der jüngste Vorfall zeigt. Serena wurde im Bus auf dem Weg zur Förderschule in der Stadt von einem anderen behinderten Kind angegriffen und gewürgt. Der Busfahrer trennte die beiden, der zu solchen Aggressionen neigende Junge darf seitdem nicht mehr mitfahren. «Ein Begleiter wäre gut», sagen Serenas Eltern, «aber dafür ist im Transportministerium kein Geld da.» Das ist laut Eltern die Antwort auf eine entsprechende Anfrage des «Centre d’éducation différenciée de Luxembourg» (Ediff) bei der Verwaltung nach der Geschichte.

Kleine Fortschritte

Wie sie Halbtagsjob, Betreuung des gesunden und des kranken Kindes und den Haushalt all die Jahre bewältigt hat, vermag die Mutter nicht mehr zu sagen. «Wenn ich so zurückblicke, weiß ich selbst nicht mehr, wie ich das geschafft habe», sagt sie. Selbst einfache Dinge wie Einkaufen sind mit Serena unmöglich. «Ich kann ihr auch nicht sagen, in einer halben Stunde gibt es Essen», sagt sie, «sie versteht das nicht, sie will sofort essen, wenn sie Hunger hat.» Da hilft nur eine optimistische Einstellung. Mut dazu machen die «kleinen» Fortschritte der Tochter. Sie kann mittlerweile mit Strohhalm selbstständig trinken, sie isst von einer hingehaltenen Gabel und gibt sie leer zurück, ein Toilettengang ist manchmal erfolgreich. «Für andere Eltern ist das nichts», sagt sie, «für mich ist das ein Segen.» Eine Prognose für Serena oder einen Plan für das Leben nach der Ediff-Zeit gibt es nicht. «Ich habe gelernt, im Moment zu leben», sagt die Mutter. Es klingt, als sei das die einzig praktikable Lebenseinstellung – unter diesen Umständen.