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Wie eine Schule in Tandel die Pädagogik revolutioniert

Wie eine Schule in Tandel die Pädagogik revolutioniert

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Die Schule muss sich ändern. Zu dieser Erkenntnis sind vier Pädagogen an der Grundschule Tandel gelangt und proben ein anderes Lehr- und Lernkonzept. Der Verein Ludus asbl, der sich im März dieses Jahres gegründet hat, geht noch viel weiter. Sein Ansatz ist eine deutliche Kritik am herrschenden Schulsystem und hat den Gegenentwurf als Vision. Unterwegs am Lernort Schule und in einer Gedankenwelt, die sich der Freiheit des Lernens verschrieben hat.

Zu Besuch in Tandel

Es gibt Geräusche, die vergisst man nicht. Der Ton der Pausenklingel an der Schule ist so einer. Wenn sie bimmelt, tauchen längst vergessen geglaubte Erinnerungen auf. Erinnerungen an die Freude, dass endlich Pause ist oder der Schulalltag dem Wochenende weicht. Erinnerungen an den Drang, alles so schnell wie möglich zusammenzuraffen und rauszurennen. Die Kinder der Klasse 3.2 in der Grundschule Tandel reagieren anders. Trotz des Klingelns bleiben sie gespannt im Kreis auf dem Boden sitzen, während vier Mitschüler die letzten Szenen eines Theaterstücks spielen. Sarah* hat das Stück um Freundschaft und Vertrauen am Vormittag dieses Morgens geschrieben. Sie gehört zu den leistungsstarken Kindern der Klasse. Vorher hat Manuel* die dritte Episode seines Liebesromans um zwei Prinzessinnen, die auffällige Ähnlichkeiten mit seinen beiden Lehrerinnen haben, vorgetragen. Der junge Portugiese ist erst in diesem Jahr zur Klasse gestoßen. Vorher gilt er als leistungsschwach, innerer Rückzug und Rebellion machen ihn verhaltensauffällig. Der Wechsel gibt ihm neuen Mut und er arbeitet jetzt auf seinem Niveau mit.

Freies Arbeiten und Kritikfähigkeit

Nach der Präsentation der Freiarbeiten, die mehr als die Hälfte des Unterrichts ausmachen, bewerten die Klassenkameraden das Gesehene und Gehörte. Sie melden sich mit Handzeichen und werden von den Akteuren aufgerufen. Manuels Geschichte kommt so gut an, dass anschließend einstimmig eine vierte Folge des «Romans» gefordert wird. Beim Theaterstück wünscht sich das Publikum mehr Dialoge. Sie sind noch ausbaufähig. Mittendrin sitzen zwei Lehrerinnen, die – wenn überhaupt – nur am Ende aller Meldungen zu den einzelnen Präsentationen eingreifen und selbst das Wort ergreifen. Zurückweisungen der Kritik oder Diskussionen zur Gesichtswahrung gibt es nicht. Jede Meinung wird ernst genommen und dankbar verinnerlicht. «Das sind starke, kluge Kinder», sagt eine der beiden Lehrerinnen Christiane Bechtold (30). Sie spricht auch für ihre Kolleginnen, wenn sie sagt: «Wir Lehrer verstehen uns hier als Lernbegleiter».

Individuelles Lernen

Das Konzept kommt aus Deutschland. Das Buch «Individuelles Lernen mit System» von Maike Grunefeld und Silke Schmolke entdeckt vor mehreren Jahren die Lehrerin Carine Flick (41). Sie unterrichtet seit 19 Jahren als Primärschullehrerin, hat viel Erfahrung und viele Schüler erlebt. Sie selbst hat eine Schulkarriere mit Frontalunterricht hinter sich, wurde darin ausgebildet und hat selbst lange so unterrichtet: Für alle Kinder gleichzeitig denselben Stoff unterrichten, der in ministeriellen Gremien entwickelt und für wichtig befunden wurde. «Das ging auch lange gut», sagt Flick. Mittlerweile hat sich aber die Zusammensetzung der Klassen grundlegend geändert, ein anderer Lehrauftrag kommt hinzu. Der berühmte Artikel 22 des Grundschulgesetzes von 2009 schreibt den «differenzierten Unterricht» vor. «Zu den sowieso schon vorhandenen Leistungsunterschieden der Kinder müssen Flüchtlings- und Inklusionskinder berücksichtigt werden und irgendwie wurde ich gar keinem mehr richtig gerecht», sagt Flick.

Alternative mit viel Aufbauarbeit

Als im Schuljahr 2013/2014 vier Kinder, eines mit Asperger-Syndrom, eines mit Autismus, eines mit einer geistigen Behinderung und ein Mädchen mit einer starken Sehbehinderung in neue Klassen integriert werden müssen, ist klar: Es muss eine Lösung her. Als sie den damaligen Schulinspektor Patrick Mergen mit der Lektüre des Buches konfrontiert, steht dieser schnell hinter der Alternative. «Damit bewegen wir uns durchaus im Rahmen des luxemburgischen Schulgesetzes, das hat das Ministerium bestätigt», sagt Mergen, «und es war die Lösung ganz vieler Probleme». Situationen wie die, die er beschreibt, kennen Pädagogen wie Kinder. «Der Schüler sitzt da, hat mental abgeschaltet und das, was vorne gesagt wird, erreicht ihn nicht mehr», sagt Mergen. Der weitere Verlauf ist absehbar. Diese Kinder werden aus der Klasse herausgenommen. Das sollte nicht länger so bleiben.

Kinder mit ihren Stärken und Schwächen ernst nehmen

Mit Viviane Coremans (48) und Christiane Bechtold finden sich zwei Mitstreiterinnen für das Pilotprojekt, das zunächst viel Arbeit macht. «Wir haben alle Materialien umgearbeitet, alles angepasst und wussten trotzdem, es bleibt ein Risiko, wenn wir das machen», sagt Flick, «die Eltern mussten einverstanden sein». Der Kern des neuen Konzepts ist die Einsicht, dass Kinder dort abgeholt werden wollen, wo sie mit ihren Stärken und Schwächen stehen, um sich mit ihrer natürlichen Neugier weiterentwickeln zu können. Unter- oder Überforderung ist in dem neuen Ansatz so gut wie ausgeschaltet. Jedes Kind wird darin bestärkt auf seinem Niveau zu arbeiten. Die Kinder ihrerseits, das beobachten die Lehrer, wissen, warum sie lernen, sind viel autonomer und auch sozialer eingestellt. Mittlerweile wird in drei Klassen mit 44 Kindern an der insgesamt im zweiten bis vierten Zyklus 150 Schüler umfassenden Grundschule im Norden des Landes so unterrichtet. In diesem System wachsen mündige Kinder auf, die gelernt haben, nachzudenken, sich selbst zu regulieren und die trotzdem wissen, dass es Regeln gibt. «Pouvoir ist etwas, das von oben durch eine Institution verliehen wird oder das über eine Rolle, wie der des Lehrers, kommt», sagt Bechthold, «Autorité bekommt man von den Kindern geschenkt, weil sie merken, dass du ihnen helfen willst». Das sei nicht zu verwechseln mit «Laissez-Faire», betonen die Beteiligten.

Noch weitergehende Ansätze im Land

Ein Vormittag an der Schule bestätigt das. Das Pilotprojekt macht Schule. Lehrer anderer Schulen hospitieren, einzelne Klassen an Grundschulen in Vianden, Wilwerwiltz, Reuler, Bettendorf und Troisvierges ziehen nach. Noch weiter geht die Initiative «LUDUS asbl», die sich im März dieses Jahres gegründet hat. «Ludus» steht für «Léieruert fir Demokratie, Uechtsamkeet a Selbstbestëmmung». Es sind Pädagogen, die unzufrieden mit der Struktur der Schulen sind und die das Gefühl haben, es müssten Auswege her. Georges Pfeiffenschneider (54) ist eins der Gründungsmitglieder. Seit 32 Jahren unterrichtet er als Grundschullehrer – überwiegend an der Grundschule Lorentzweiler. «Das aktuelle Schulsystem passt tel quel nicht mehr in unsere Zeit», sagt er. Es wurde doch aber immer wieder reformiert? Das reicht nicht. Pfeiffenschneider zieht einen Vergleich. «Man kann die Fassade eines Hauses immer wieder anstreichen», sagt er, «wenn die Substanz aber baufällig ist, macht es das nicht besser». Die Vorbehalte gehen noch weiter. «Wenn man immer nur gesagt bekommt, was wichtig zu sein hat, bringt das am Ende Menschen hervor, die ihre Kritikfähigkeit und Kreativität verloren habe», sagt Pfeiffenschneider.

Anderes Bildungsverständnis

Bei so einem Vorgehen hätten Kinder nie gelernt mitzuentscheiden oder gar demokratische Mitbestimmung zu leben, so der Pädagoge. Diese Überzeugungen beruhen auf einem Bildungsverständnis, das weit über reine Aneignung von Wissen hinausgeht. «Bildung ist die Befähigung, sich für die Welt zu interessieren», sagt Pfeiffenschneider, «und sie bringt die Bereitschaft hervor, diese Welt mitgestalten zu wollen». Noch etwas anderes kommt hinzu: «Wir bereiten Kinder auf berufliche Karrieren vor, die es in zehn Jahren so vielleicht gar nicht mehr gibt», sagt er, «und jeder denkt, wir könnten einfach so weitermachen wie bisher». Das Ausland ist da offensichtlich schon weiter. Allein auf der Seite des «Schools of trust»-Teams sind 13 Einrichtungen in Deutschland aufgeführt, an denen andere Schulformen gelebt werden.

Schools of Trust

Die gleichnamige Dokumentation porträtiert innovative Schulen rund um die Welt und gibt Pfeiffenschneider recht, wenn er sagt: «Es ist ein großer Bedarf danach da und es wäre schade, wenn das ausgerechnet in Luxemburg fehlen würde». Wie die Alternative aussehen könnte, steht fest. «Wir wollen einen Ort schaffen, wo junge Menschen frei und altersgerecht zusammen lernen und sich gegenseitig inspirieren können», sagt Pfeiffenschneider, «einen Ort, wo Erwachsene sie dabei begleiten, ihre selbst gesteckten Ziele zu erreichen, ohne dass sie ein Programm vorgesetzt bekommen». Ein solches System kommt ohne Bewertung in Form von Noten aus und ohne ein Denken in diesen Parametern. Dass das nicht einfach werden und viel Widerstand hervorrufen wird, ist klar. Verwaltung, Lehrmittelindustrie, Therapeuten, die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder behandeln, um nur einige Beispiele zu nennen: Der Schulbetrieb ist ein Geschäft, von dem viele leben. Gut leben.

*Name von der Redaktion geändert