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Warum „Amerika zuerst“ jetzt „Europa vereint“ bedeutet

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Von Guy Verhofstadt, Vorsitzender der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) und ehemaliger belgischer Premierminister

Eines der Hauptargumente für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union lautete, dass das Vereinigte Königreich auf sich allein gestellt in der Lage sein wird, bessere Handelsabkommen mit anderen Ländern – und sogar mit Europa – abzuschließen. Laut Austrittsbefürwortern wie dem britischen Außenminister Boris Johnson gibt es «nur einen Weg, die von uns gewünschte Veränderung herbeizuführen– nämlich für den Austritt zu stimmen». Dies deshalb, weil die EU-Mitgliedstaaten zu gespalten und mit ihren eigenen Krisen beschäftigt sind, um die Integrität des europäischen Projekts zu wahren.

Doch weniger als ein Jahr vor dem «Brexit-Tag» – dem Datum, an dem die offizielle EU-Mitgliedschaft Großbritanniens endet – ist klar, dass die Hoffnungen der britischen Regierung, die Wirtschaft der EU zu spalten und anschließend zu beherrschen, zunichtegemacht wurden.

Die EU-Mitgliedstaaten haben sich nämlich während der gesamten Brexit-Verhandlungen in beeindruckender Weise geeint präsentiert. Und obwohl es im Hinblick auf den Brexit nichts zu feiern gibt, hat der Prozess zumindest gezeigt, dass Europa am stärksten agiert, wenn es vor Herausforderungen steht.

Tatsächlich scheint die EU für viele Europäer von den Toten auferstanden zu sein. Langsam, aber sicher zeigen der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel – die mächtigsten Führungspersönlichkeiten der EU – Zeichen der Annäherung, um gemeinsam längst überfällige Reformen auf EU-Ebene umzusetzen.

Trotz der Bildung einer gegen das Establishment gerichteten Koalitionsregierung in Italien und des Aufstiegs populistischer Parteien in ganz Europa geht aus Meinungsumfragen hervor, dass die Unterstützung für die EU derzeit den höchsten Wert seit Jahrzehnten aufweist. Laut einer jüngst durchgeführten Eurobarometer-Umfrage hätten 83 Prozent der Europäer bei einer am Befragungstag abgehaltenen Volksabstimmung für einen Verbleib in der EU gestimmt und ein Rekordwert von 60 Prozent sieht die EU-Mitgliedschaft als «gute Sache» für ihr Land.

Mit anderen Worten: Obwohl der Populismus sicher für politische Spaltungen innerhalb der EU sorgen kann, bestehen wenige Hinweise darauf, dass der Brexit einen Dominoeffekt bewirkt hat. Brexit-Protagonist Nigel Farage glaubt vielleicht, dass die neue populistische Regierung Italiens ein Erfolg seiner Marke Nationalismus im Alleingang ist, aber es stellt sich heraus, dass die Populisten Europas aus einem anderen Holz geschnitzt sind als in Großbritannien.

Obwohl die Finanzmärkte angesichts der Möglichkeit, dass die neue italienische Führung ihr Land aus der Eurozone führen könnte, nervös reagierten, zeigten Umfragen nach den Wahlen im März, dass 60 bis 72 Prozent der Italiener einen derartigen Schritt nicht unterstützen würden.

Ambivalenz

Dennoch geht aus den Umfragen der jüngsten Vergangenheit eine stärkere Ambivalenz gegenüber der aktuellen Entwicklung der EU hervor. Lediglich 32 Prozent der Bürger glauben, dass sich «die Dinge in der EU in die richtige Richtung» bewegen, während 42 Prozent der Meinung sind, die Union sei auf dem falschen Weg. Die Frage für die meisten Europäer lautet daher nicht, ob man die EU zerstören soll, sondern wie sie zu verbessern sei.

Aufgrund der Nachwirkungen der Finanzkrise des Jahres 2008 und der darauffolgenden Krise in der Eurozone hat die EU erforderliche Reformen nicht umgesetzt. Jetzt allerdings besteht die einmalige Gelegenheit, aktiv zu werden, denn die Wahrheit über Europas gefährliche neue geopolitische Realität kommt bei vielen in der EU endlich an.

Denn im Grunde verblasst die einheitsstiftende Herausforderung für die EU aufgrund des Brexit im Vergleich derjenigen, die Donald Trump darstellt. Die Geringschätzung der NATO durch den US-Präsidenten und die Enthüllungen über die Kontakte seines Wahlkampfteams mit dem Kreml nahestehenden Russen im Vorfeld der Wahlen des Jahres 2016 haben überaus deutlich gemacht, dass sich die Europäer hinsichtlich ihrer Sicherheit nicht mehr ausschließlich auf die Vereinigten Staaten verlassen können.

Außerdem hat Trumps Entscheidung, Zölle auf Stahl- und Aluminiumimporte aus der EU (und anderen mit den USA verbündeten Staaten wie Kanada und Mexiko) einzuheben, die politischen Entscheidungsträger Europas in Entrüstung und Missfallen geeint.

Und Trumps Vorschlag, die amerikanischen Straßen von deutschen Autos zu befreien – obwohl viele «deutsche» Autos tatsächlich in genau den US-Bundesstaaten gefertigt werden, wo man ihn unterstützt – verhilft den Deutschen möglicherweise zur Einsicht, dass sie die Hilfe der anderen Europäer benötigen, um ihre Autoindustrie zu schützen.

Nationalismus

Trumps Zölle bieten daher der großen Koalitionsregierung in Deutschland die perfekte Gelegenheit, Macron hinsichtlich seiner ehrgeizigen Reformvorschläge für die EU und die Eurozone auf halbem Weg entgegenzukommen. Für Deutschland ist es Zeit, den Bedürfnissen der südeuropäischen Länder etwas aufgeschlossener gegenüberzustehen.

Trumps Politik des «Amerika zuerst» ist eine fehlgeleitete Rückkehr zum unverhüllten Nationalismus und Protektionismus vergangener Tage. Sie stellt eine direkte Bedrohung der internationalen Ordnung der Nachkriegszeit dar, die seit 73 Jahren für Wohlstand und Stabilität sorgt. Und doch könnte diese Politik genau die Entwicklung sein, die der seit Langem stagnierende europäische Integrationsprozess braucht.

Trump schwelgt in dem von ihm angerichteten Chaos. Er betrachtet internationale Beziehungen als ein Nullsummenspiel von Gewinnern und Verlierern, und insoweit als seine Außen- und Handelspolitik überhaupt Sinn ergibt, ist sie transaktional. Im Gegensatz dazu besteht der Modus operandi der EU aus Zusammenarbeit und Kompromiss. Und nun, da diese beiden Weltanschauungen aufeinanderprallen, wird wohl jede noch weiter verstärkt.

Neben Brexit und Trump stellen der Revanchismus des russischen Präsidenten Wladimir Putin und Chinas wachsendes Selbstbewusstsein die globale Ordnung auf den Kopf. Aber wie wir Europäer allzu gut wissen, gibt es nichts Besseres als eine Krise, um die Dinge wieder in Gang zu bringen. Wir haben schwierige Entscheidungen jahrzehntelang vermieden. Jetzt müssen wir entscheiden, welches Europa wir im Jahr 2050 und darüber hinaus wollen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
Copyright: Project Syndicate, 2018
www.project-syndicate.org

GuyT
15. Juni 2018 - 15.25

Wer auf die Kriegstreiber reinfällt hat nichts gelernt aus der Geschichte. Wichtig ist die Chronologie der Aufrüstung zu beachten. Die Nato hat aufgerüstet und sich immer weiter an die Grenze gedrängt. Die Entwicklung an der Ukraine und der Krim hat der Westen selbst ausgelöst. Die Krim ist mehrheitlich russisch. Die Russen bedrohen uns mitnichten. Gottseidank sind die Bürger weniger stupid und lassen sich nicht so leicht mehr irreführen. Grundproblem ist dass die USA auf keinen Fall wollen , dass das starke Europa und das rohstoffreiche Russland zusammenarbeiten und eine Supermacht bilden können. Die lächerlichen Horrormärchen über die bösen Russen sind einfach zu dick aufgetragen.

Grummel
13. Juni 2018 - 6.01

Léiwer keng Hollännësch Truppen well déi verteidégen just séch selwer.... Srebrenica waar jo de Beweis.
Mee soss awer mat ierch averstaan

H.Horst
12. Juni 2018 - 16.24

Europa muss ohne Verzug eigene nennenswerte Streitkräfte aufstellen um ein eigenes Abschreckungspotenzial gegen Osten zu besitzen und an seinen Rändern im Süden und Südosten als Ordnungs- und Stabilisierungsmacht agieren zu können. In dem Moment da niederländische Truppen unter italienischer Führung eine griechische Grenze sichern ist die europäische Integration vollzogen. Dieses Beispiel widerspricht zwar dem Ideal Europas als einer Zivilmacht....aber es funktioniert und ist eher früher als später eine unvermeidliche Realität.