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Irlands anderer Glaubenskrieg

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Etwas mehr als drei Millionen Iren stimmen heute darüber ab, ob Abtreibung legal werden soll. Erwartet wird ein enges Ergebnis. Die Debatte wurde zuletzt zunehmend hitziger. Dabei rissen viele Wunden auf, die nie verheilt waren. In der Tat hatten es Irinnen immer besonders schwer. Während sich in Nordirland die Konfessionen gegenseitig bekriegten, kämpfte in der Republik die katholische Kirche gegen die Rechte der Frauen.

Man kommt nicht an ihnen vorbei. In der Metropole Dublin nicht, in der Stadt Limerick nicht und auch im Küstenort Westport nicht. Die Kampagnenleiter haben ganze Arbeit geleistet. Die Wahlplakate hängen an fast jeder Laterne. Meist kommen sie in Paaren, auf ein «Wählt Ja» folgt ein «Wählt Nein», auf ein «Vote No» ein «Vote Yes». Irlands Gesellschaft ist seit Langem und immer noch tief gespalten. Wer das vergessen hatte, den erinnern die meist kleinen Schilder mit oft drastischen Bildern und extremen Botschaften daran.

Es geht um Abtreibung, über deren Legalisierung die Iren heute abstimmen. Es geht aber auch um die Position der Frau im weiterhin tiefkatholischen Irland. Das Referendum ist nötig, da das Abtreibungsverbot auf der Insel Verfassungsrang hat. 1983 schritten die Iren schon einmal zu den Urnen, um über den Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Abtreibung war damals bereits per Gesetz verboten, ab nun war die Gleichheit vom Leben der Frau und jenem des Ungeborenen in der Verfassung verankert. Es war die achte Änderung am irischen Grundgesetz. Die Frage heute lautet demnach: Soll das 8th Amendement zurückgezogen werden oder nicht? Sollen Frauen in Irland bis zur zwölften Schwangerschaftswoche abtreiben können? Sollen sie das aus medizinischen Gründen auch darüber hinaus tun dürfen?

Oder anders gefragt: Soll die Republik Irland in dieser Frage den gesellschaftspolitischen Anschluss an die anderen EU-Staaten finden oder nicht? Nur Malta hat ein ähnlich strenges Abtreibungsgesetz wie Irland: Sie ist verboten, auch bei Vergewaltigung, Gefahr für die Mutter, schlimmer Missbildung des Fötus. Nein heißt nein. Mit aller gesellschaftlichen Scham, die damit einhergeht. Und mit allen Konsequenzen, die auch den Tod einer Frau nicht ausschließen.

Savita Halappanavar starb im November 2012. Sie war in der 17. Woche schwanger, das Kind, das sie im Bauch trug, war bereits tot. Doch die Ärzte konnten noch einen Puls vernehmen. Sie verweigerten die Abtreibung. Die 31-jährige Savita starb drei Tage später an einer Blutvergiftung. Die Frau war tot. Der Glaube blieb gerettet. Doch in Irland setzte sich etwas in Gang. Es kam zu Protesten. Der Fall kann als Ausgangspunkt gesehen werden für das Referendum, über das Irland seit Wochen auf der einen Seite öffentlich streitet und debattiert, auf der anderen Seite, im privaten Bereich, aber ebenso schweigt.

Alte Traditionen und Cambridge Analytica

Die Iren tun sich nicht leicht mit ihrer Entscheidung. Es ist etwas sehr Persönliches. Viele finden, dass in dieser Frage die eigene Meinung nicht an die Öffentlichkeit gehört. Die Töne in der Kampagne wurden zuletzt immer harscher. Besonders in den sozialen Netzwerken wird erbittert gestritten. Beide Lager beschuldigten sich gegenseitig, aus dem Ausland heraus finanziert zu werden.

Evangelikale Kreise aus den USA hätten mithilfe ehemaliger Mitarbeiter der Datenkraken-Firma Cambridge Analytica die No-Kampagne unterstützt, hieß es. Der in den USA lebende jüdische Financier George Soros, den rechte Verschwörungstheoretiker immer wieder ins Spiel bringen, wenn sie ihr Weltbild bedroht sehen, stifte für die Yes-Seite, kam der Konter. Ob etwas an den Anschuldigungen dran ist, bleibt vorerst ungeklärt. Die Regierung aber ließ vor wenigen Wochen vom Ausland aus bezahlte Internet-Kampagnen verbieten. Sicher ist sicher. Mittlerweile wird zwar mit einem Sieg der Abtreibungsbefürworter gerechnet, darauf wetten mag trotzdem niemand. Alle Umfragen deuten auf ein knappes Rennen hin.
Irland steht vor dem nächsten Schritt. Das Land kann seinen in gesellschaftspolitischen Fragen eingeschlagenen Sonderweg verlassen. Der Wandel, den es in den vergangenen Jahren erlebt hat, ist in der Tat beachtlich. Noch im Jahr 1993 vermummten sich die Teilnehmer einer Schwulenparade in Irlands zweitgrößter Stadt Cork. Sie wollten keine Schande über ihre Familien bringen. Im Mai 2015 haben 62,1 Prozent der Iren in einem Volksentscheid für Eheschließungen «ungeachtet des Geschlechts» gestimmt. Heute führt mit Leo Varadkar ein Homosexueller als Taoiseach die Regierungsgeschäfte. Damals, 2015, wurde das Ergebnis ausgiebig gefeiert, die neue Offenheit in der erzkatholischen Republik auf Straßenfesten euphorisch begossen.

Mit solchen Festen ist, egal wie die Abstimmung heute ausgeht, dieses Mal eher nicht zu rechnen. Denn der Vergleich hinkt. Damals ging es um Frauen und um Männer. Dieses Mal geht es nur um Frauen. Und mit Frauen hatte und hat Irland so seine Probleme. In kaum einem europäischen Staat wurden sie so lange so stark unterdrückt wie in Irland.
Zahllose Skandale während der vergangenen Jahrzehnte zeugen davon. Und der rezenteste brandete gerade nun auf. Ein öffentliches Programm zur Frühdiagnose von Gebärmutterhalskrebs funktionierte nicht. Mindestens 208 Frauen wurden in den Jahren 2010 bis 2014 fälschlicherweise negativ getestet. Darüber informiert wurden sie nicht. 17 dieser Frauen sind mittlerweile verstorben. Nun wird ermittelt, ob die Behörde von dem Fehler wusste.

Verhungern lassen ging, Abtreiben auf keinen Fall

Am nachhaltigsten schockierte die Insel aber der Umgang mit unverheirateten Müttern und ihren Kindern. Sie mussten jahrzehntelang durch die Hölle gehen. Die schwangeren Frauen wurden, und das bis in 1990er Jahre, in Heime abgeschoben. Sie mussten Uniformen tragen, bekamen neue Namen, durften sich nicht mit anderen unterhalten. Nach der Geburt bekamen die jungen Mütter ihre Säuglinge nur dreimal am Tag zum Stillen. Sonst sahen sie sie nicht.

Die Kinder wurden entweder zur Adoption freigegeben, was für den irischen Klerus lange Jahre ein Bombengeschäft war, oder sie starben, an heilbaren Krankheiten, an Schwäche, an Hunger, an Dehydrierung. Ihre Leichen wurden oft nicht einmal auf Friedhöfen beigesetzt. Sondern, wie in der Stadt Tuam, in Massengräbern verscharrt. Erst in den 1990er Jahren deckte eine Lokalhistorikerin den Skandal auf. Dass es überhaupt zu diesen Heimen kam, ist der Angst der katholischen Kirche geschuldet. Sie befürchtete, die ledigen Frauen könnten nach England auswandern, ihre Kinder dort zur Adoption freigeben – und diese könnten dann protestantisch werden. Sie in der eigenen Obhut verhungern zu lassen, schien für Irlands damals tatsächlich noch allmächtige katholische Kirche, die die Verfassung mit schrieb, das geringere Übel zu sein.

England, wo der Schwangerschaftsabbruch 1967 legal wurde, blieb fortan ein wiederkehrendes Kapitel im irischen Abtreibungsdrama. Wer es sich leisten konnte und alt genug zum Reisen war, versuchte sein persönliches Leiden auf der Nachbarinsel zu regeln. Legal war das lange Jahre nicht. Und es brauchte einen Skandal, um den Stein ins Rollen zu bringen.

1992 erschütterte der Fall einer 14-Jährigen das Land. Von den Medien wurde sie Ms X getauft. Nach einer Vergewaltigung schwanger geworden, stellte sie den behördlichen Antrag, in England abtreiben zu können. Ms X sagte, ihr Leben sei in Gefahr, sie habe Selbstmordgedanken. Der Staat lehnte ihr Gesuch ab. Nicht einmal Informationen über Abtreibungen durfte es damals in Dublin geben. Ms X musste vor das Verfassungsgericht ziehen.

So kam es zu ersten Abschwächungen am Gesetz. Wenig später wurde es legal, für eine Abtreibung ins Ausland zu reisen. Frauen bekamen auch das Recht, sich darüber informieren zu lassen. Der irische Sprachgebrauch wurde um einen bitteren Euphemismus reicher. To travel – reisen – stand ab da stellvertretend für Abtreibung im Ausland. Die katholischen Hardliner hatten eine Schlacht unter vielen verloren, die entscheidende folgt aber erst heute.

Sie erfolgt in einer Gesellschaft, in der die katholische Kirche weiter mit aller Macht verwurzelt ist. 90 Prozent der Grundschulen Irlands unterstehen auch heute noch dem Bistum. In ihnen wird Sex weiter verteufelt. Aufklärung gibt es kaum oder keine. Dabei wäre sie der erste Schritt, um ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden.