Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat vorgezogene Neuwahlen im Sommer angesetzt. Die eigentlich für November 2019 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen werden auf den 24. Juni vorgezogen, wie Erdogan gestern in Ankara verkündete. Ein Überblick dazu, was das bedeutet.
Von Armand Back
Kommt die Ankündigung von Neuwahlen überraschend?
Nicht wirklich. Dass Erdogan Neuwahlen anstreben könnte, pfiffen die Spatzen schon länger von den Dächern Istanbuls und Ankaras. Erdogan hatte es zwar bis gestern vermieden, die Möglichkeit von Neuwahlen öffentlich zu thematisieren, u
nd sprach immer wieder vom regulären Wahltermin im November 2019. Das tat er sogar noch am Dienstag. Da hatte sich der Vorsitzende der ultrarechten Partei MHP, Devlet Bahceli, für Neuwahlen ausgesprochen. Bahceli, ehemals erbitterter Gegner Erdogans, ist seit dem Putsch im Juli 2016 ein treuer Verbündeter Erdogans geworden. „In dieser Situation ist es nicht möglich, bis zum 3. November 2019 zu warten“, sagte Bahceli am Dienstag in einer im Fernsehen übertragenen Rede vor seiner Parlamentsfraktion in Ankara. „Am 26. August 2018 sollte die türkische Nation im Geiste eines neuen Siegs zur Urne gehen.“ Am 26. August wird der Schlacht von Manzikert gedacht, bei der die Türken 1071 die Byzantiner besiegt hatten. Die Türken werden nun allerdings am 24. Juni und nicht am 26. August wählen. Schlachtgedenken und Urnengang finden demnach nicht am selben Tag statt. Auch war schon seit Monaten spekuliert worden, dass Erdogan die Wahlen vorziehen werde, um einer Eintrübung der Wirtschaft zuvorzukommen. Die Wirtschaft ist zwar im Jahr 2017 um 7,4 Prozent gewachsen, doch verharren die Inflation und die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau, während die Lira seit Monaten fällt und allein im März acht Prozent ihres Werts verlor.
Geht Erdogan mit den Wahlen ein Risiko ein?
Gerne würde man hier nun schreiben, dass Wahlen immer ein gewisses Überraschungspotenzial innewohnt. Bei der Türkei ist das jedoch kaum der Fall. Zum einen ist die kurdische Minderheit in der Türkei (eine Minderheit, die bei einer Gesamtbevölkerung von rund 80 Millionen immerhin knapp 20 Millionen Menschen zählt) durch einen mittlerweile fast zwei Jahre andauernden Militäreinsatz, der im Namen des Kampfes gegen den Terror geführt wurde und wird, völlig ermattet. Zahlreiche kurdische Bürgermeister wurden aus ihren Ämtern gedrängt. Ein Teil der Spitze der pro-kurdischen linken Partei HDP sitzt in Haft oder wartet auf ein Gerichtsurteil. Zum anderen ist die Atmosphäre in der Türkei dermaßen nationalistisch aufgeladen, dass sich quasi alle politischen Parteien Erdogan und seiner nationalistischen Politik untergeordnet haben. Grund hierfür ist der türkische Militäreinsatz im syrischen Kanton Afrin. Bei diesem vertrieb die türkische Armee mit Unterstützung von islamistischen Freischärlern die Kämpfer der Kurdischen Volkseinheiten YPG aus Afrin und Umgebung. Die marxistisch orientierten YPG wollten dort eine basisdemokratische Gesellschaft aufbauen. Die Türkei sieht sie als syrisches Pendant zu der in der Türkei (sowie in der EU und den USA) als Terrororganisation verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. In diesem Kampf um Afrin, der international stark kritisiert wurde, hat sich fast die ganze Türkei hinter Erdogan gestellt. Auch die kemalistische CHP, die größte Oppositionspartei ist, unterstützte den Militäreinsatz. Der grassierende Nationalismus in der Türkei führte so weit, dass Zeitungen, die von „gefallenen“ türkischen Soldaten schrieben, mit Hassnachrichten überschüttet und als Landesverräter dargestellt wurden. Wer zurzeit in der Türkei offen gegen Erdogan ist, ist demnach klar in der Minderheit.
Was will Erdogan mit den Neuwahlen bezwecken?
Kurz gesagt will Erdogan die Früchte ernten, die er im vergangenen Jahr mit dem erfolgreichen Verfassungsreferendum gesät hatte. Denn mit der nächsten Wahl wird in der Türkei der Wechsel zum Präsidialsystem vollzogen, das am 16. April 2017 bei einem umstrittenen Referendum mit knapper Mehrheit gebilligt worden war. In dem neuen System wird der Präsident über deutlich mehr Befugnisse verfügen, während die Rechte des Parlaments geschwächt werden. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Trotzdem hatten sich die größten Oppositionsparteien bereits am Dienstag zu Neuwahlen bereit erklärt. Sie haben nun nur wenige Wochen, um sich für die Abstimmung in Position zu bringen.
Wie rechtfertigt Erdogan den Schritt hin zu vorgezogenen Neuwahlen?
Erdogan sagte gestern in seiner Ansprache, trotz des Volksentscheids für das Präsidialsystem werde die Türkei noch immer gemäß dem alten System regiert. „Obwohl es scheint, dass wir keine ernsthaften Probleme haben dank der harmonischen Arbeit von Präsident und Regierung, ist die Unzulänglichkeit des alten Systems bei jedem Schritt sichtbar“, erklärte der Präsident. Dennoch sei er bislang dafür gewesen, an dem Wahltermin im November 2019 festzuhalten. Doch wegen des türkischen Militäreinsatzes in Syrien sowie der „historischen Entwicklungen in Syrien und dem Irak“ sei es für die Türkei notwendig, „so schnell wie möglich die Ungewissheiten“ zu überwinden, sagte Erdogan.
Was sind die Interessen der faschistischen MHP, deren Vorsitzender Bahceli Erdogan mit seinem Vorpreschen für Neuwahlen den Weg bereitete?
Die MHP hatte nach dem versuchten Militärputsch von Juli 2016 eine informelle Koalition mit Erdogans islamisch-konservativer AKP geschlossen. Für die anstehenden Wahlen bildeten die beiden Parteien ein offizielles Wahlbündnis. Dies soll der MHP den Sprung über die in der Türkei geltenden Zehn-Prozent-Hürde erlauben und Erdogan einen Sieg in der ersten Runde der Präsidentenwahl sichern.
Sind überhaupt noch andere Parteien im Rennen?
Ja, aber sie müssen sich eine Strategie zurechtlegen, wie sie der Übermacht Erdogans und seiner AKP begegnen wollen. Dafür bleibt, wie bereits erwähnt, nur sehr wenig Zeit. Noch ist unklar, wen die Opposition ins Rennen gegen Erdogan schicken wird. Auch ist offen, ob sich die Oppositionsparteien zu einem Wahlbündnis zusammenschließen werden. Die linksnationalistische CHP führte dazu in den vergangenen Wochen Gespräche mit der neu gegründeten Iyi-Partei der MHP-Dissidentin Meral Aksener und der islamisch-konservativen Saadet-Partei.
In welchem Gemütszustand befindet sich die Türkei zurzeit?
Zum alles umgreifenden Nationalismus gesellt sich ein gesteigertes Unsicherheitsgefühl. Ein Ausdruck dessen ist der Ausnahmezustand, der nach dem Putschversuch von Juli 2016 über das Land verhängt wurde. Am Dienstag nun empfahl der Nationale Sicherheitsrat, diesen um weitere drei Monate zu verlängern. Es ist bereits das siebte Mal, dass der Ausnahmezustand, der Erdogan weitreichende Sonderbefugnisse einräumt, verlängert wird. Die EU hatte, ebenfalls am Dienstag, in ihrem Fortschrittsbericht zur Türkei erneut die Aufhebung des Ausnahmezustands gefordert. Die türkische Regierung geht unter dem Ausnahmezustand mit harter Hand gegen die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen vor, den sie für den versuchten Militärputsch verantwortlich macht. Die Repressionen haben aber auch kurdische Oppositionelle, kritische Journalisten und unabhängige Wissenschaftler getroffen. Insgesamt wurden unter dem Ausnahmezustand 140.000 Staatsbedienstete entlassen und mehr als 55.000 Menschen inhaftiert. (mit AFP)
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können