Headlines

Arbeitszeit 4.0

Arbeitszeit 4.0
Foto: Editpress

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Christian Z. Schmitz, erster Bevollmächtigter der IG Metall Trier, im Gespräch mit dem Tageblatt.

Seit wenigen Tagen haben die Mitarbeiter der Metall- und Elektroindustrie in Deutschland einen neuen Flächentarifvertrag. Dabei stehen nicht so sehr höhere Gehälter im Vordergrund, sondern qualitative Elemente wie die Arbeitszeit. Die Arbeiter sollen mehr selber bestimmen, wie viel sie arbeiten wollen. Am Mittwoch war Christian Z. Schmitz, erster Bevollmächtigter der IG Metall Trier, auf Einladung der Gewerkschaft OGBL in Luxemburg, um über den Abschluss zu referieren. Wir unterhielten uns mit ihm und Patrick Freichel vom OGBL über den Tarifabschluss, die Arbeit 4.0 und über Gewerkschaften in Deutschland und Luxemburg.

Von Yves Greis

Tageblatt: Gibt es einen Paradigmenwechsel in der Gewerkschaftsarbeit, der macht, dass die geldliche Komponente bei diesen Tarifvertragsverhandlungen in den Hintergrund gerückt ist?
Christian Z. Schmitz: Nein, dem ist nicht so. Aber qualitative Themen spielen immer wieder gleichberechtigt eine Rolle. Für die IG Metall ist das nichts Neues. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder qualitative Themen nach vorne gebracht. Stichwort: unbefristete Übernahme der Auszubildenden. Zuerst wurden wir von den Arbeitgebern beschimpft. Mittlerweile sind die Arbeitgeber uns dankbar, weil sie auf dem enger werdenden Ausbildungsmarkt jetzt Vorteile haben, die andere Branchen nicht bieten.

Das wird bei dem Thema Arbeitszeit genau so sein. Zur Arbeitszeitflexibilität kommt jetzt die Arbeitszeitsouveränität. Das heißt, die Kolleginnen und Kollegen können sich in gewissen Grenzen ihre Arbeitszeit selber aussuchen. Es gibt nun für jeden in unserer Branche, der mehr als fünf Jahre im Betrieb ist, die Möglichkeit auf die 28-Stunden-Woche überzugehen. Zudem gibt es jetzt ein Modell, bei dem die Kolleginnen und Kollegen, die berechtigt sind, selber wählen können, ob sie lieber mehr Geld oder mehr Zeit haben. Dieses Optionsmodell ist nicht ganz neu.

Die EVB, unsere Bahngewerkschaft, hat im letzten Jahr einen Tarifabschluss gemacht, in dem Komponenten gewählt werden konnten. Einen Teil gab es als festen Geldbetrag, einen anderen Teil konnte jeder wählen in Urlaubstagen, in Arbeitszeitreduzierung oder in Geld. Dort haben wir gesehen, dass zwei Drittel der Kollegen sich für Zeitkomponenten entschieden haben.

In Luxemburg argumentieren die Arbeitgeber, dass es einen Fachkräftemangel gibt und deshalb eine Arbeitszeitreduzierung nicht möglich ist. In Deutschland wird auch oft von Fachkräftemangel gesprochen. Warum ist dort eine Arbeitszeitreduzierung möglich?
Die Arbeitgeberverbände haben das gleiche Argument gebracht. Wenn Sie mit einzelnen Trierer Unternehmern sprechen, dann sehen diese aber die Arbeitszeitreduzierung als Vorteil auf dem Arbeitsmarkt. Für viele Arbeitgeber ist das die einzige Möglichkeit, Fachkräfte aus Luxemburg zurückzugewinnen. Bei den geldlichen Leistungen können sie oft nicht mit Luxemburg mithalten. Bei der Frage der Arbeitszeitgestaltung können sie ihre fehlende Wettbewerbsfähigkeit ausgleichen. Und das ist bei vielen Arbeitgebern bei uns in der Region kein Nachteil. Sie wehren sich natürlich, weil es Aufwand ist und weil es viel Geld kostet. Nicht aber, weil sie grundsätzlich etwas gegen Arbeitszeitflexibilität haben. Ganz im Gegenteil.

Was für Folgen hat dieser Tarifabschluss für andere Branchen oder Ihre Branche in anderen Ländern?
Die Gewerkschaft Ver.di hat nachgezogen. Es gibt nun eine Forderung, Arbeitszeitflexibilität im öffentlichen Dienst einzuführen.
In der Zukunft wird sicherlich auch über Arbeit und Industrie 4.0 gesprochen werden. Die Frage also der Digitalisierung und der Produktivitätsentwicklung durch den technischen Fortschritt. Dieser Flexibilität muss auch Arbeit 4.0 entgegengestellt werden. Ich bin mir sehr sicher, dass dieser Abschluss eine Tür geöffnet hat für etwas, das in den nächsten Jahren kommen wird.

Einer der sieben Tarifverträge, die wir jetzt abgeschlossen haben, betrifft die mobile Arbeit. Wir erörtern die Frage: Wo fängt Arbeit an, wo hört Arbeit auf? Wie kann man das erfassen und wie kann man das umsetzen? Dazu müssen Sie wissen, dass unsere Betriebsräte eine ganz andere Gestaltungsmacht haben als die Kolleginnen und Kollegen in Luxemburg. Das Betriebsverfassungsgesetz gibt den Betriebsparteien deutlich mehr Möglichkeiten der Ausgestaltung, die auch bei unseren Tarifverträgen noch kommen müssen.

Haben Sie sich in dem, was Sie verhandelt haben, am Ausland orientiert oder wollen Kollegen aus dem Ausland sich nun an Ihnen orientieren?
Ehrlicherweise nicht.

Die Kollegen in Luxemburg sind nicht auf Sie zugekommen und haben sich informiert, ob Sie ein Stück davon auf Luxemburg übertragen können?
Das kann man machen. Allerdings laufen diese Gespräche bilateral, weil es keine tarifpolitische Koordinierung des europäischen Gewerkschaftsbundes gibt. Diese Koordinierung ist schwierig. Die ist selbst in Deutschland innerhalb des DGB schwierig. Es ist eine freiwillige Zusammenarbeit. Eine Koordinierung auf europäischer Ebene gibt es nicht.

Aber Sie sind ja nach Luxemburg gekommen, um darüber zu reden. Offensichtlich besteht ja im Ausland ein Interesse.
Patrick Freichel: Über den Tarifabschluss ist ja in Luxemburg auch berichtet worden. Wir wollen uns hier in der Großregion austauschen, weil hier eben alles einfacher funktioniert als im großen Europa. In Luxemburg haben wir im Metallbereich keinen Flächentarifvertrag wie in Deutschland, sondern einzelne Kollektivverträge in den Betrieben. Aber die Fragestellungen, die in der großen IG Metall aufgeworfen werden, haben auch für Luxemburg Aktualität. In Luxemburg arbeiten in der Industrie etwa 30.000 Menschen. Ein Großteil sind Grenzgänger und Grenzgängerinnen.

Es stellen sich Fragen zur Kinderbetreuung, darüber, wie die Menschen über ihre Arbeitszeit verfügen können, welche Möglichkeiten sie haben, um kürzer zu arbeiten. Wir haben in Luxemburg eine gesetzliche Flankierung durch die Sonderurlaube, die auf betrieblicher Ebene aber nicht ausreichen. Insofern ist eine Arbeitszeitkomponente in den Kollektivverträgen eine Forderung, die immer stärker von den Belegschaften gestellt wird.

Sie haben von der stärkeren Mitbestimmung in Deutschland gesprochen. Sollte sich das Ausland daran orientieren?
Christian Z. Schmitz: Ich werde mich hüten, den Kollegen im Ausland zu sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Das ist eine Frage von politischer und organisationspolitischer Kultur. Die Regelungsdichte vonseiten des Gesetzgebers ist in Luxemburg einfach höher. Hinzukommen die Kollektivverträge.

In Deutschland macht der Gesetzgeber fast gar nichts. Was für uns gut ist. Wir nennen das Tarifautonomie. Auf betrieblicher Ebene läuft hingegen eine Menge und der Arbeitsvertrag ist wiederum fast unbedeutend. Insofern sind kollektivrechtliche Lösungen bei uns bevorzugt. Während in Luxemburg traditionell auch in der Sozialpolitik der Gesetzgeber das Sagen hat, können wir in Deutschland viele sozialpolitische Aufgaben nur tarifpolitisch erreichen. Das ist eine andere Kultur, die seit 70 Jahren gewachsen ist. Beide haben Vor- und Nachteile. Thematisch kann man sich inspirieren und schauen, ob man etwas in sein Portfolio aufnehmen kann, aber die Kultur kann man nicht von heute auf morgen ändern und das macht auch keinen Sinn.

Das bedeutet auch, dass in Deutschland Gewerkschaften nicht so stark in den Gesetzgebungsprozess eingebunden sind wie in Luxemburg.
Bei uns nur informell. Der Draht ist nicht schlecht, aber eben nur informell. Wir haben als Einheitsgewerkschaft einen Draht zu allen Parteien. Nur nicht zur FDP und zur AFD. In allen Vorständen unserer Gewerkschaften sind Parteimitglieder jeder Couleur vertreten, bis auf die Neoliberalen.

Unsere Gewerkschaften sind im KZ gegründet worden. Das ist eine ganz andere Herangehensweise und Kultur gegenüber den frankophilen Gewerkschaften, wo es Gesinnungsgewerkschaften gibt. Das kann man nicht einfach umstellen.
Zum ersten Mal treten jetzt Betriebslisten der AFD an. Ob darauf eine andere Gewerkschaft erwächst, das wissen wir nicht. Das ist eine Herausforderung. Wir sagen aber ganz klar, dass wir einen Klassenstandpunkt vertreten, der unabhängig von der Gesinnung oder den weltanschaulichen Zusammenhängen ist.

Wie sieht es in Deutschland mit jungen Mitgliedern aus? Haben Sie Rekrutierungsprobleme?
Ganz im Gegenteil. Wir gewinnen sehr viele junge Leute. Anfänglich wussten wir gar nicht, warum, weil unsere Funktionärsschicht eher alt ist. Wir erleben diesen Trend allerdings schon stabil seit der letzten Krise. Uns fehlt der „mittlere Bauch“, also die, die in einer Organisation die Arbeit tragen. Wir haben viele, die älter sind als 55 und sehr viele bis 40. Die Menschen zwischen 40 und 55 nennen wir „die verhunzten Jahre“. Das sind die, die neoliberale Gehirnwäsche ab den 90ern am stärksten und am längsten mitbekommen haben.
Erst die Jahrgänge nach der Wirtschaftskrise waren wieder offener für alternative Erklärungsmodelle – für eine Alternative, durchaus auch auf politischer Ebene.
Diese Tarifrunde hat gezeigt, dass nicht nur die Forderungen begeisterungsfähig sind, sondern dass es in der deutschen Gesellschaft auch ein Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung und nach Polarisierung gibt – die froh sind, dass mal jemand was tut und auch durchzieht. Ich bin mir sicher, unsere Mitglieder wären bereit gewesen, das erste Mal seit 1985 im Westen in einen Erzwingungsstreik zu gehen.

Wir haben mit der IG Metall in Deutschland keinen Flächenstreik mehr machen müssen seit 1985, seit der Einführung der 35-Stunden-Woche. Es gibt eine ganze Generation, die keinen Streik mehr kennt. Die Alten erzählen davon, die Jungen freuen sich drauf und die Mittleren glauben nicht, dass sie das in ihrem Leben mal tun müssen. Wenn die IG Metall was gefordert hat, haben die Arbeitgeber immer gezittert.