Kaum ein anderer weiß das Leistungspotenzial von Gilles Muller so gut einzuschätzen wie Alexandre Lisiecki. Der Franzose arbeitet nämlich schon seit ungefähr acht Jahren als Trainer mit dem FLT-Spieler zusammen. In diesem Jahr erlebte er mit den zwei Turniersiegen (in Sydney und ’s-Hertogenbosch) sowie dem Viertelfinal-Einzug in Wimbledon von Muller den Höhepunkt seiner Trainerlaufbahn. Im nächsten Jahr wird sich der 42-Jährige wieder mehr seinen Verpflichtungen bei LETZServ widmen, obwohl er seinem Schützling weiterhin bei großen Veranstaltungen zur Seite stehen wird. Benjamin Balleret wird Muller künftig als „Travel Coach“ begleiten. Im Tageblatt-Interview geht Lisiecki noch einmal auf eine bewegende und ereignisreiche Saison 2017 ein.
Tageblatt: Herr Lisiecki, die Saison 2017 war vollgepackt mit Highlights. Wie würden Sie das Jahr einmal kurz rekapitulieren?
Alexandre Lisiecki: Das wird nicht einfach werden (lacht). Insgesamt war es aber ein wahnsinnig emotionales und intensives Jahr. Gleich zu Anfang der Saison ging es brisant los. Bis zum Spätsommer hatte man nicht wirklich Zeit zum Durchschnaufen. Leider musste Gilles Ende September aufgrund seiner Verletzung ungewollt eine Zwangspause einlegen. Aber es war auch die Art und Weise, wie der erste Turniersieg von Gilles zustande kam, die sehr speziell war. Acht Jahre arbeiten wir nun daran, damit er sich seinen größten Traum (Anm. d.R.: einen Turniersieg) erfüllen kann. Endlich ist ihm dies gelungen. Aber es konnte an sich niemand damit rechnen, dass er gleich zu Beginn der Saison diesen Coup landen könnte. In Brisbane fühlte sich Gilles wirklich nicht gut und war krank. Dies war wirklich jammerschade, schließlich war er vom physischen Level her aufgrund einer tollen Vorbereitung in einer Top-Verfassung. Das Ganze hatte auch Auswirkungen auf sein Selbstvertrauen und seine Motivation. Aber er hat sich davon keineswegs entmutigen lassen und ging in Sydney an seine Grenzen. Er selbst wusste – und wir auch –, dass spielerisch noch viel Luft nach oben war. Aber er kämpfte sich bis ins Finale. Am Ende konnte er das Turnier tatsächlich für sich entscheiden.
War sein erster Titel auch eine Art Erleichterung für Sie?
Erleichterung jetzt nicht unbedingt, weil man eigentlich gar keine richtige Zeit dazu hatte, das Ganze richtig zu verarbeiten. Man hat erst viel später all diese Ereignisse „verdaut“. Wenn ich noch einmal zurückblicke, ging es nach seinem Turniergewinn am Sonntag in Sydney gleich am Dienstag bei den Australian Open weiter. Nachdem Gilles also den Pokal erhalten hatte, wurden schnell die Koffer gepackt und man stieg ins Flugzeug nach Melbourne. Es gab einfach keine Zeit zum Feiern. Aber natürlich ist Gilles eine enorme Last von den Schultern gefallen, schließlich war er zu diesem Zeitpunkt noch der einzige Spieler in den Top 50 der Welt, der noch keinen ATP-Titel in der Tasche hatte. Das hat ihn schon befreit.
Haben Sie Fortschritte in seinem Spiel nach dem Turniersieg in Sydney erkannt?
In Australien hat Gilles nicht so überragend gut gespielt. Das Finale in Sydney gegen Daniel Evans war vom spielerischen Level her aber relativ gut. In der zweiten Runde der Australian Open gegen Milos Raonic war aber mehr möglich, auch wenn sich eine gewisse Müdigkeit bei ihm bemerkbar machte. Danach hat mein Schützling aber sein Spielniveau kontinuierlich gesteigert. Das führte dazu, dass er sogar auf Sand des Öfteren eine gute Figur abgab. Gute Resultate blieben auch auf diesem Belag nicht aus. Den Höhepunkt seiner Form erreichte er aber ganz klar in Wimbledon.
In der „Player’s Box“ wirken Sie meistens sehr ruhig. Ist es für Gilles wichtig, einen Trainer zu haben, der eine ruhige Ausstrahlung von draußen vermittelt?
Klar, aber ich darf mir ja auch keine Nervosität anmerken lassen. Hier verstecke ich mich des Öfteren hinter einer Fassade. Denn es nimmt einen natürlich schon mit, wenn Gilles in einer kniffligen Situation ist. Gegen Isner z.B. wehrte er einmal zehn Matchbälle ab. Nach außen wirkte ich zwar cool, innerlich war ich aber sehr angespannt. Aber ich muss Gelassenheit und Ruhe ausstrahlen, weil Gilles diese Ruhe braucht, um gut spielen zu können. Wenn ich mich als Coach bei jedem Punkt aufregen und auf der Tribüne wild gestikulieren würde, wäre das kein gutes Zeichen. Aber ich habe einfach ein immenses Vertrauen in seine Fähigkeiten. Das trägt schon zu meiner Beruhigung bei. Ich weiß, dass er selbst in den unmöglichsten Situationen Lösungen finden kann. Natürlich hat er einen sehr starken Aufschlag und guten Vorhandschlag, doch ich würde sagen, dass die mentale Stärke auch zu seinen Pluspunkten zählt. Und auch an Tagen, wo es nicht mehr so rund läuft, d.h. der erste Aufschlag kommt nicht so wie gewünscht, findet er einen Weg aus dieser misslichen Lage. Der Turnierverlauf in Sydney war in dieser Hinsicht das beste Beispiel dafür.
Was kann man in der nächsten Saison von „Mulles“ erwarten?
Das ist sehr schwer zu sagen. Körperlich ist er topfit, das ist schon extrem positiv. Obwohl er in den letzten Monaten keinen Schläger in der Hand hatte, hat er sich doch gut in Form gehalten. Deshalb glaube ich, dass er, solange er unverletzt bleibt, wieder für Top-Ergebnisse sorgen kann. Er hat nämlich die Fähigkeit, absolute Spitzenleute zu schlagen. Das hat er ja auch schon in der Vergangenheit oft genug bewiesen. Spätestens 2017 hat gezeigt, dass Gilles bereits jetzt auf eine tolle Karriere zurückblicken kann. Er kann also jetzt völlig befreit aufspielen.
Gilles ist 34 Jahre alt, aber es gibt sicherlich noch immer Punkte, in denen er sich verbessern kann. An welchen Aspekten wird in Zukunft gearbeitet?
Wir versuchen, an einfachen Dingen zu arbeiten. Wenn ein Spieler z.B. 90 Kilo wiegt, kann dieser aufgrund seiner physischen Voraussetzung wahrscheinlich nicht der beste Defensivspieler der Welt werden. Die Trainer sind keine Magier. Wir wollen einem Spieler helfen, damit dieser das Bestmögliche in diesem Bereich herausholen kann. Jedoch will dies nicht automatisch heißen, dass der Erfolg dann vorprogrammiert ist. Gilles hat sich im Laufe der Jahre aber in so vielen Punkten verbessert. Er hat den Kampf gegen jede noch so schwere Veränderung angenommen und konnte dies letztendlich auch gut in seinem Spiel umsetzen. Allein schon deshalb ist er ein großer Champion. Es gibt Leute, die nicht drei Dinge in ihrem Leben ändern können, aber Gilles hat es geschafft, gefühlte 250 Veränderungen vorzunehmen. Deshalb habe ich einfach nur einen gehörigen Respekt. Ich arbeite mit ihm im Hintergrund und weiß deshalb auch, warum z.B. genau dieser eine Schlag jetzt vorzüglich funktioniert hat.
Wo genau besteht also jetzt noch Verbesserungsbedarf?
Das ganze Trainerteam ist der Meinung, dass er sich noch bei seinem zweiten Aufschlag steigern kann. Auch im Returnspiel kann Gilles sich noch verbessern. In diesem Bereich hat er schon einen großen Schritt nach vorne gemacht. Aber vielleicht könnte er den Gegner – wenn dieser über den zweiten Service gehen muss – noch mehr in Bedrängnis bringen. Und im mentalen Bereich wartet stets Arbeit auf einen Profisportler. Gilles ist ein Spieler, der die Perfektion anstrebt. Deshalb neigt er auch manchmal dazu, sich auf dem Platz aus der Ruhe bringen zu lassen, wenn es nicht so läuft, wie er es gerne hätte. Es ist für ihn wichtig, dass diese negativen Emotionen nicht Oberhand gewinnen dürfen. Er hat schon sehr viel in diesem Bereich gearbeitet, d.h. wie man mit diesen Emotionsphasen umgehen muss. Wenn Gilles weniger diesen negativen Gefühlen ausgesetzt ist, dann empfindet er natürlich mehr Spielfreude auf dem Platz. Jedoch darf man auch nicht vergessen, dass er schon jetzt eine unglaubliche mentale Stärke besitzt.
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