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«Der IS ist geschwächt, nicht besiegt»

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Nahost-Experte Patrick Cockburn über Araber und Kurden, Syrien und den Irak.

Mossul ist zurückerobert aus den Händen des IS, das syrische Rakka dürfte bald folgen. Wie aber geht es weiter im Nordirak, wo die Kurden nach Unabhängigkeit streben? Und was bedeutet der Verlust von Mossul für den IS und für Europas Sicherheit? Ein Gespräch mit dem Nahost-Experten Patrick Cockburn.

Nach der Rückeroberung der symbolträchtigen Al-Nuri-Moschee in Mossul hat der irakische Ministerpräsident das Ende der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) verkündet. Auch die Rückeroberung der IS-Hochburg Rakka in Syrien steht wohl kurz bevor. Was bedeutet das für den IS?

Patrick Cockburn: Das bedeutet schon eine große Wende. Der Islamische Staat war fast wie ein richtiger Staat: Er hatte eine Armee, eine Wirtschaft, eine Verwaltung – ähnlich wie jedes einzelne Mitglied der Vereinten Nationen. Natürlich wurde dieser „Staat“ auf eine monströse Art geführt. Nichtsdestotrotz war es ein sehr mächtiges Gebilde. Das hat den IS stark unterschieden von anderen terroristischen Organisationen wie Al-Kaida, die nie ein Gebiet dieses Ausmaßes kontrolliert hat. Demnach ist die Rückeroberung von Mossul von großer Wichtigkeit – sie bedeutet aber nicht, dass der IS aufhört zu existieren.

Wie könnte das im Detail aussehen?

Der IS wird vielleicht keine Kontrolle mehr über große Städte haben, dafür aber über andere Gebiete. Hinzu kommt, dass die irakischen Streitkräfte Probleme haben, ausreichend Soldaten aufzutreiben. Die Anzahl ihrer wirklichen Kämpfer ist ziemlich begrenzt. Damit sind auch ihre Möglichkeiten, den IS anderswo zu schlagen, ziemlich beschränkt. Wer um Mossul herumfährt, sieht viele Checkpoints. Die besetzen aber nicht die irakischen Streitkräfte, da sitzen Milizen, verschiedene bewaffnete Gruppen, die gar nicht kämpfen wollen, sondern von Bestechungsgeldern leben, die bezahlt werden müssen, um die Straßensperren zu passieren. Diese Kämpfer werden nicht umsonst Checkpoint-Armeen genannt. Es wird demnach schwierig, diese Gebiete zu stabilisieren. Der IS ist eine brutale, fanatische Organisation, eines darf man aber nicht vernachlässigen, nämlich die große militärische Expertise der IS-Anführer. Sie haben ihre Niederlage in Mossul sicher vorausgesehen und demnach verschiedene Kontingente ihrer Kämpfer anderswo untergebracht. Der IS ist vielleicht geschwächt – aber nicht auf Dauer ausgeschaltet.

Steigt mit den Niederlagen des IS in Syrien und Irak in Europa die Gefahr durch Terroranschläge, etwa weil viele IS-Kämpfer in ihre Heimatländer zurückkehren?

Diese Gefahr besteht, das ist klar. Aber es gibt einen weiteren Grund für eine gesteigerte Gefahrensituation in Europa. Bislang hat der IS Gebietsverluste sozusagen kompensiert, indem er Terrorattacken in Europa und anderswo ausführte. Die Attentäter dabei waren keine Foreign Fighters, die erst kürzlich zurückgekehrt waren. Wir haben das zuletzt in Manchester und London gesehen. Und wir werden das wahrscheinlich in nächster Zeit wieder sehen.

Wird der Irak ein Staat in seinen alten Grenzen bleiben? Die Kurden streben nach Unabhängigkeit, haben für Ende September ein Referendum zu dieser Frage ausgerufen …

Das ist eine sehr undurchsichtige Situation. Einige Fakten aber gibt es. Das irakische Kurdistan, also der Norden vom Irak, ist pleite. Die haben einfach kein Geld mehr, sie mussten Einlagen von den Banken konfiszieren. Sie schulden unter anderem Ölgesellschaften riesige Geldsummen. Es wird also spannend zu sehen sein, wie sie die Unabhängigkeit erreichen wollen. Alliierte werden sie keine haben. Das Problem der Kurden ist, im Irak wie in Syrien, dass sie sich gut geschlagen haben und dementsprechend stärker geworden sind – vor allem weil sie die Hauptgegner des IS waren. Wenn der IS aber verschwindet oder unwichtig wird, verlieren die Kurden ihren politischen Hebel. Die Frage, die sich stellt, ist, ob sie sich dann weiter auf die Unterstützung der USA und der Westeuropäer verlassen können.

Wie sehen Sie die Position der Amerikaner in dieser Frage?

Die Amerikaner waren immer gegen eine kurdische Unabhängigkeit, auch wegen Bagdad. Und die Rückeroberung von Mossul ist vor allem ein fulminanter Sieg für Bagdad, das jetzt politisch und militärisch stärker dasteht als zuvor. Die Kurden haben am Angriff auf Mossul kaum teilgenommen. In den ersten Wochen waren sie in sehr begrenztem Maß am Einsatz beteiligt, aber seitdem gar nicht mehr. Politisch gesehen, auf die lange Sicht, kommt die Bagdader Regierung gestärkt aus dieser Schlacht heraus – und die Kurden geschwächt.

Gibt es eine wirkliche Gefahr in der Region für einen Krieg zwischen Arabern und Kurden?

Zu einem gewissen Grad gibt es den ja schon. Vor allem in Syrien, wo die von den USA unterstützten Kurden den IS bekämpfen – und in diesem Sinn dort ja bereits gegen Araber kämpfen. Die Gefahr aus Sicht der Kurden ist, dass sie Gebiete im Krieg erkämpft haben, die sie nicht werden halten können, wenn der IS einmal vollständig besiegt ist. Das zählt für den Irak und für Syrien.

Werden die Kurden nicht um diese Gebiete kämpfen?

Genau kann man das nicht sagen. Die Regionalregierung der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak hat ihr Gebiet im Jahr 2014 um 40 Prozent ausgedehnt, auch dank des Kampfes gegen den IS. Auch die syrischen Kurden haben ihr Einflussgebiet weit über die Grenzen hinaus ausgedehnt, in denen es eine syrisch-kurdische Bevölkerung gibt. Das wird es nicht einfacher machen, diese Gebiete zu halten.

Welche Rolle werden der Iran und die Türkei in Zukunft in der Region spielen?

Das hängt vor allem davon ab, was die Amerikaner tun werden. Der US-Präsident verfolgt eine stramm anti-iranische Politik. Aber bei Trump muss man sich auch fragen: Was für eine Politik wird er künftig verfolgen? Wenn die Amerikaner im Irak und in Syrien auf dieser Anti-Iran-Linie bleiben, werden die Iraner den Druck erwidern – das könnte die Lage noch einmal eskalieren lassen. Vorhersagen lässt sich so etwas zurzeit aber nur sehr bedingt. Wir wissen nicht, wie die US-Außenpolitik sich entwickeln wird: Es gibt Trumps Politik, es gibt die Politik des Nationalen Sicherheitsrates, es gibt die Politik des Pentagon und es gibt die Politik des US-Außenministeriums … Das Desaster für die Türkei besteht darin, dass der Krieg in Syrien den kurdischen Einfluss gestärkt hat und eben nicht den türkischen. Die Türkei unternimmt im Moment nichts, da die Amerikaner sie nicht lassen. Aber wenn der IS besiegt ist, könnten die Amerikaner aufhören, die Türken auszubremsen, was diese wiederum dazu verleiten könnte, in den Norden Syriens einzumarschieren.

Sie sind seit vielen Jahren ein aufmerksamer Beobachter der Region, waren kürzlich wieder in Mossul. Was hat Sie an dieser Schlacht am meisten erstaunt?

Das herausragendste Merkmal dieser Rückeroberung ist die Zeit, die sie gebraucht hat. Es sind jetzt 254, 255 Tage – das ist eine extrem lange Belagerung. Jeder wusste, dass der IS um Mossul kämpfen würde. Aber nachher war jeder überrascht, wie lange das dauerte. Vielleicht zeigt das auch, wie stark der IS als militärische Kraft bleiben wird. Der IS schlug zurück gegen Verbände, die viel größer waren als der IS selber, die dazu noch von der von den USA geführten Anti-IS-Koalition aus der Luft unterstützt wurden. Aber sie haben sich extrem stark verteidigt, das hat mich am meisten erstaunt.

Wie geht es weiter?

In den Irak könnte jetzt etwas mehr Frieden einziehen. Doch der IS hat nur eine große Schlacht verloren, er wurde nicht zerstört. Der IS wird jetzt zeigen wollen, dass er noch Schlagkraft besitzt. In Syrien stellen sich ähnliche Fragen. Wichtig ist hier vor allem, ob die Amerikaner die syrischen Kurden weiter unterstützen werden und demnach, ob die Türkei Bodentruppen nach Syrien schicken wird. In Syrien bleiben mehr

KTG__
30. Juni 2017 - 7.13

Seltsame Antworten, oder zumindest nicht immer ganz komplett. Die Zentralregierung aus Baghdad geht natürlich gestärkt aus dem Krieg hervor, allerdings... a) die Kurden durften gar nicht am Angriff auf Mossul teilnehmen, ebensowenig wie die schiitischen Milizen b) die Kurden kontrollieren nicht nur große nichtkurdische Gebiete im Irak, sondern vor allem die Großstadt Kirkuk, die keine kurdische Stadt ist und als Pfund gebraucht werden kann, um finanziell wieder auf die Beine zu kommen c) die Stadt Tell Afar wird immer noch vom IS kontrolliert und gehört zu dessen Kerngebiet, die Gebiete westlich von Kirkuk werden immer noch vom IS kontrolliert ebenso große Teile des West-Iraks d) die goldene Division und andere Elitetruppen haben ziemlich viele Kämpfer verloren, strategisch ist es zwar ein Sieg in Mossul, personalpolitisch leider ein Desaster, die Zentralregierung wird die Kurden (oder die Milizen) brauchen, um die restlichen Gebiete zu erobern oder zu halten, denn auch die Einnahme von Tell Afar haben die schiitischen Milizen nicht durchführen dürfen, weil sich sonst die Sunniten bedroht gefühlt hätten und dies noch mehr Zulauf für den IS in dieser Stadt bedeuten würde.