Die Verharmloser argumentieren wie folgt: Wer behauptet, dass das Escher Stadtzentrum einen Ghettoisierungsprozess durchlaufe, der setze – ihnen zufolge – Esch mit dem New Yorker Stadtviertel Bronx gleich.
Wer so redet, macht aber zunächst einmal deutlich, dass seine eigenen kulturellen Bezugspunkte reichlich beschränkt, weil weitgehend amerikanisiert sind.
Denn was heißt hier überhaupt „Ghetto“?
Zunächst einmal handelt es sich dabei bis zum heutigen Tage um ein Viertel der „Serenissima“, in der die venezianischen Behörden im 16. Jahrhundert die jüdische Bevölkerung der Stadt zwangsweise konzentrierten.
In der Folge erweiterte sich die Bedeutung dieses Begriffes: Er bezeichnet nunmehr in der Regel ein Stadtviertel, in dem eine bestimmte Bevölkerungskategorie zwangsweise und/oder unter eigener Mitwirkung mehr oder weniger isoliert vom Rest der Bevölkerung zusammenlebt.
Dementsprechend gibt es soziale Ghettos für Immigranten, für Arme, Reiche oder die Mittelschicht („Suburbia“: des Luxemburgers so heiß geliebte „Cité“ im „Lotissement“) unter weitgehendem Ausschluss der „Mixité sociale“.
„Mixité sociale“ ade
Es gibt aber auch und meistens als direkte Folge der vorgenannten Kategorie ethnische Ghettos (Segregation nach Hautfarbe oder Nationalität). Es gibt sogar Künstlerghettos.
Im Escher Stadtzentrum sinkt seit Jahren die „Mixité sociale“: Einst gab es im Brillviertel sowohl Straßen, in denen die Arbeiterbevölkerung dominierte (etwa die Kanal-, die Bernard- oder Teile der Dicks-Straße), als auch solche, in denen eher die Mittel- oder Oberschicht zuhause war (etwa die Spoo-, Alzette- oder Pasteur-Straße).
Hier lebten Luxemburger und Italiener, Alteingesessene und Immigranten, Arme und Wohlhabende Seite an Seite. Diese „Mixité“ verschwindet zusehends (wie ich selbst als jemand, der seit 23 Jahren in der Brasseur-Straße wohnt, aus eigener Erfahrung bezeugen kann).
Das Escher Zentrum wandelt sich demnach in eine Zone, in der Immigranten und sozial Benachteiligte weitgehend unter sich sind. In ein Ghetto also. Was wohlgemerkt kein Vorwurf an die Adresse dieser Menschen ist, denn es ist selbstverständlich ihr elementares Recht, dort leben zu können!
Die große Mehrheit der Bewohner des Brillviertels sind durchaus liebenswürdige Menschen, die hart arbeiten, um am Ende (vor allem, nachdem die Miete bezahlt ist) doch nur einen eher bescheidenen Lebensstandard genießen zu dürfen.
Das Problem in solchen „sozialen“ Ghettos ist aber eine kleine Minorität (vielleicht fünf, vielleicht zehn Prozent) von Asozialen, die durch ihr rücksichtsloses Verhalten die Lebensqualität aller Bewohner dieses Viertels (also vornehmlich Immigranten!) versauen.
Ein Leser hat sich daran gestört, dass wir für diese Kategorie den Begriff „Lumpenproletariat“ verwendet haben. Dabei taten wir dies in Anlehnung an jenen Menschen, der ihn geprägt hat, nämlich Karl Marx himself (in seinem „18. Brumaire“ sowie, zusammen mit Friedrich Engels, im „Kommunistischen Manifest“). In der englischen Ausgabe des „Manifestes“ von 1888 definiert Engels das „Lumpenproletariat“ als „the dangerous class“ sowie als „passiv verfaulenden“ „gesellschaftlichen Abschaum“ („social scum“). Das sind deutliche Worte, indeed.
Das Lumpenproletariat kann sich übrigens aus allen sozialen Schichten rekrutieren. Dass auch degenerierte Adlige und Bourgeois sich asozial und rücksichtslos benehmen können, braucht (gerade vor dem Hintergrund der rezenten Banken- und Finanzkrise) ja nun nicht mehr extra bewiesen zu werden.
Passiv verfault
Marx, Engels (aber auch Trotzki) werfen den Lumpen vor allem mangelnde Solidarität mit dem eigentlichen Proletariat vor. In der Tat wäre weder ein Mussolini noch ein Hitler jemals an die Macht gekommen, wenn sich ihnen nicht die Lumpen in Divisionsstärke als Knüppelgarden gegen die Linke zur Verfügung gestellt hätten.
Wenn in einer Stadt wie Esch Politik und Polizei (P&P) Gottes Wasser über Gottes Land laufen lassen, indem sie behaupten, dass man keine Probleme lösen müsse, die nicht (oder in nicht nennenswertem Ausmaß) existierten, wirkt sich diese Vogelstrauß-Taktik notwendigerweise in erster Linie zum Nachteil von Immigranten und sozial Benachteiligten aus.
Asoziales Verhalten wird im Übrigen oft gar nicht mehr der Polizei gemeldet. Es findet demgemäß einen eher geringen Niederschlag in den Polizeistatistiken. Andererseits wird aber nun doch wohl niemand ernsthaft behaupten wollen, dass nur de facto existiert, was in einer Polizeistatistik existiert: Derlei Zahlenwerk ist ergo in Bezug auf die tatsächliche Lebensqualität in einem Stadtviertel nur ausgesprochen beschränkt aussagekräftig.
Wenn niemand den Lumpen und Asis Einhalt gebietet, wenn etwa die Vollgastrottel am Steuer ihrer abgefuckten Sportwagen-Parodien mehr oder weniger ungehindert ihrer „passiv verfaulten“ Idiotie freien Lauf lassen dürfen, dann sind es vornehmlich die oben erwähnten, hart arbeitenden, liebenswürdigen und trotzdem alles andere als wohlhabenden Bürger, welche die Zeche zu zahlen haben.
Wenn man als Linker in der politischen Verantwortung steht, sollte man übrigens gerade dies niemals vergessen.
Zu Demaart
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